Auch ein deutscher Tourist kann charmant sein: SP-Kandidat Martin Schulz scheut beim Wien-Besuch kein Späßchen.

Wien - "Lufballons sind die Hölle", sagt der junge Mann mit dem Parteilogo auf dem T-Shirt. Schaudernd erinnert er sich an die Aufblasexzesse des letzten Wahlkampfes, und auch heute machen die knallroten Dinger nur Mühe. Windböen zerren an den Ballontrauben, drücken sie den hohen Herren auf die Köpfe. Fotografen, Assistenten, Leibwächter meckern: Ständig ist der Aufputz im Weg.

Die Eskorte gilt einem Stargast, der in der von Touristen überschwemmten Innenstadt auf ein größeres Wählerpotenzial trifft als die ihn flankierenden heimischen Politiker. Martin Schulz, europäischer Spitzenkandidat der Sozialdemokraten und damit sozusagen für alle EU-Bürger wählbar, bahnt sich den Weg durch die Kärntner Straße. Sehr nahbar wirkt er erst einmal nicht, doch das liegt mehr an der Entourage, denn an ihrem Mittelpunkt. Links und rechts wachen humorlos wirkende Gestalten mit dunklen Anzügen und verspiegelten Ray-Ban-Brillen, rundherum schließt sich ein Belagerungsring aus Kameraleuten und Fotografen.

"Jetzt gehn wir mal zu den Leuten", sagt Schulz und durchbricht die Menschenmauer, "ich bin kein scheues Reh." Weit kommt er nicht - für einen Präsidenten des angeblich so bürgerfernen Europaparlaments, der mit Glatze und Vollbart nicht eben den Prototyp des massentauglichen Vote-Getters verkörpert, zieht Schulz viele Aficionados an. Eugen Freund, heimischer SP-Spitzenkandidat mit einem Packen Autogrammkarten in der Hand, bekommt vielleicht halb so viel Applaus.

Guantánamo bis Gladbach

Ein gemeinsames Selfie will der erste Fan, ein Schwätzchen der nächste, der mühelos den Bogen von Guantánamo bis Mönchengladbach, dem Fußballklub aus Schulz' Heimat, spannt. "Bad in der Menge" ist nicht übertrieben: Obwohl sich Schulz längst des Sakkos entledigt hat, sprießen ihm Schweißperlen auf der Nase. Glücklich die SPÖ-Claqueure, die ihre gelben Pappsterne als Schattenspender verwenden können.

Gnadenlos knallt die Sonne auch bei der Ansprache, obendrein macht das Mikro Mucken. "Ich höre mich doppelt", klagt Schulz. "Man kann dich gar nicht oft genug hören", sagt Freund.

Der deutsche Genosse revanchiert sich mit einer nicht ganz uneigennützigen Empfehlung. "Wer Eugen Freund wählt, wählt Martin Schulz als Kommissionspräsident", ruft er und spielt damit seinen Trumpf aus. Dass da selbst bei einem sozialdemokratischen Wahlsieg die mehrheitlich konservativen Regierungschefs noch ein Wörtchen mitreden, sagt er nicht dazu - Schulz hofft, dass die Dynamik der Ereignisse gar keine andere Entscheidung zulasse: "Die Leute haben die Nase voll von einem Europa hinter verschlossenen Türen."

Einen "Kurswechsel" in Richtung mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit verspricht Schulz und appelliert: "Werfen Sie Ihre Stimme nicht weg, indem Sie nicht wählen gehen." Um Strahlkraft über das Kernmilieu hinaus zu symbolisieren, posieren Freund und Schulz dann noch mit gezücktem Daumen vor dem Stephansdom. "Mir gefällt's", sagt ein Anhänger: "Als ich jung war, hat noch der Pfarrer gesagt, was wir wählen sollen." (Gerald John, DER STANDARD, 23.5.2014)