"Kinky" und dabei radikal: der Clip "Water Me".

Foto: VIS

Wien - Im Mai 1968 kam es beim Filmfestival von Cannes zum Eklat. Die Filmemacher Claude Lelouch, Jean-Luc Godard, François Truffaut, Louis Malle und Roman Polanski erklärten sich mit den demonstrierenden Studenten solidarisch und forderten den Abbruch der Veranstaltung. Fünf Tage vor dem offiziellen Ende hatten sich die Regisseure durchgesetzt, und Gastgeberin Grace Kelly beendete die südfranzösische Feierlichkeit, während sich das Land bereits im Generalstreik befand.

Nicht nur weil erst vor wenigen Tagen das diesjährige Festival in Cannes mit einem reizlosen Grace-Kelly-Biopic eröffnet, stellt sich die Frage, was eigentlich aus dem vielbeschworenen Geist des politisch und ästhetisch avancierten Kinos geworden ist. Öffnet sich ein Film einem breiteren Publikum, gerät er schnell unter Generalverdacht, seine künstlerischen Ambitionen zu vernachlässigen oder gar zu verraten. Wer bei den X-Men noch einen Funken Gesellschaftskritik zu finden meint, steht bald selbst als Außenseiter da.

Andererseits werden Filme, die sich tatsächlich um innovative Ästhetik oder Erzählung bemühen, öffentlich kaum wahrgenommen. Das betrifft historisch betrachtet praktisch alle Klassiker von Kenneth Anger bis Zelimir Zilnik. Weshalb es meist Sonderprogrammen - und hier wiederum oftmals Arbeiten in Kurzfilmlänge - vorbehalten bleibt, das Erbe subversiven, widerständischen Kinos weiterzuführen.

An einer solchen Fortschreibung versucht sich nun das Wiener Filmfestival Vienna Independent Shorts (VIS), das mit der Filmschau Fokus: Radical einer möglichen Radikalität im Kino nachspürt. Das breitgefächerte Programm verdeutlicht bereits die Schwierigkeit der Fragestellung:

So widmet sich ein Schwerpunkt der polnischen Künstlerin und Animationsfilmerin Mariola Brillowska, die in ihren Arbeiten wiederholt die Themen Sexualität und Kapitalismus aufgreift; die Reihe Girls & Guns macht sich mit Filmen wie Isabella Rossellinis Green Pornos oder Marina Abramovic' Balkan Erotic Epic auf die Suche nach sexueller weiblicher Fantasie; und Werke von Roy Andersson , Ben Russell und Takashi Ito werden zur Sammlung von "Ideen eines subkutanen Kinos".

Doch kann ein "radikales" Kino überhaupt definiert werden? Verstand sich die filmische Avantgarde jahrzehntelang nicht nur als künstlerische, sondern auch als politische Kritik am sogenannten Establishment, scheint das Terrain für ein derartiges Kino heute sehr schmal geworden. Denn das Aufbrechen von Tabus genügt längst nicht mehr als Mittel zur Provokation. Die Frage dürfte also nicht lauten, welche Freiheiten und Freizügigkeiten uns auf diversen Screens erwarten, sondern auf welche Art sie zu verstören imstande sind.

Wirksamer als jede explizite Darstellung ist jedenfalls der Grad der Verstörung: In dem fürs Modelabel Proenza Schouler entstandenen Snowballs von Harmony Korine (Spring Breakers) schweben zwei als Native Americans verkleidete Mädchen in Zeitlupe durch eine trostlose amerikanische Vorstadtsiedlung.

Mit bizarr anmutendem Federschmuck wird vor einem Lumpenzelt getanzt, bis die Abenddämmerung die beiden ins Haus eines Mannes treibt, dessen Fingerspitzen zu Geburtstagskerzen mutieren und der sich alsbald, wie Dennis Hopper in David Lynchs Blue Velvet, die Sauerstoffmaske umschnallt. Doch der erwartete Schrecken will nicht eintreten - oder stellt sich erst ein, wenn der Film bereits zu Ende ist. (Michael Pekler, DER STANDARD, 23.5.2014)