Jean-Claude Juncker im Wahlkampf.

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Juncker über sich selbst: "Ich sehe mich als einen konsenshungrigen Menschen."

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Besichtigung von Unternehmen.

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Brüssel-Korrespondent Thomas Mayer im Gespräch mit Jean-Claude Juncker.

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Auf einer dreitägigen Tour nach Portugal und Griechenland erzählte der EVP-Kandidat Jean-Claude Juncker Thomas Mayer, warum er kandidierte und wie sein Zukunftsszenario aussieht.

STANDARD:  Sie möchten Kommissionspräsident werden, viel Macht gewinnen. Aber wie ist es, wenn man die Macht verliert? Sie wurden im Oktober nach 19 Jahren als Ministerpräsident abgewählt ...

Juncker: Ich bin von der Bevölkerung wieder gewählt worden, sogar mit komfortabler Mehrheit. Meine Partei erreichte 34 Prozent der Stimmen. Die zweitstärkste Partei hatte nur 19 Prozent. Ich bin der moralische Sieger der Wahl gewesen, trotzdem in der Opposition gelandet. Es braucht drei, vier Tage, um das wegzustecken. Aber Mehrheit ist Mehrheit. Man muss das akzeptieren.

STANDARD:  Waren Sie frustriert? Als einer, der seit dem Umbruch 1989 alle wichtigen EU-Entscheidungen mitgestaltete, alles und jeden Premier gut kennt?

Juncker: Ich leide nicht unter Machtverlust.

STANDARD: Sie wollten Ihre Memoiren schreiben. Warum sind Sie als Spitzenkandidat der EVP angetreten?

Juncker: Das hätte ich auch gerne gemacht. Ich schreibe gerne. Eben weil ich alle kenne und mich alle kennen, war es nicht so, dass ich ausgesperrt gewesen wäre von europäischen Entscheidungsfindungen. Es gibt das Telefon. Viele besuchen mich. Man bittet mich zum Gespräch.

STANDARD: Nie aufgehört? Es heißt, Sie wurden überredet?

Juncker: Es entsprach auch nicht meiner Lebensplanung. Ich hätte schon 2004 ohne Mühe Kommissionspräsident werden können.

STANDARD: Die Regierungschefs haben Sie 2004 bekniet, aber Sie haben abgelehnt. Warum?

Juncker: Kurz davor waren Wahlen in Luxemburg. Ich habe den Luxemburgern gesagt: Wenn ich aufgrund der Wahlergebnisse wieder Premierminister werden kann, dann tue ich das auch. Nach der Wahl haben mich einige Regierungschefs angerufen und gesagt: Jetzt kannst du nach Brüssel gehen. Aber so funktioniere ich nicht. Wenn ich etwas sage, dann mache ich das auch so.

STANDARD: Warum?

Juncker: Ich hätte immer Angst davor gehabt, dass ich am Sonntagnachmittag in Luxemburg durch die Straßen gehe und die Leute sagen: Da kommt der Verräter!

STANDARD: Stimmt es also, dass man Sie nun überreden musste?

Juncker: Das stimmt schon. Als ich in die Opposition abgedrängt wurde, habe ich plötzlich fast aufatmend zur Kenntnis genommen, dass ich ein freier Mann bin. Ich habe die Freiheit vor mir gesehen wie das offene Meer. Aber dann haben viele in der EVP, aber auch in anderen Parteien mir geraten, für das Amt des Kommissionspräsidenten zur Verfügung zu stehen. Mir war sehr bewusst, was ich mir zumute. Ein knochenharter Job.

STANDARD: 1994 wurde Jean-Luc Dehaene von den Briten per Veto verhindert, 2004 dann Guy Verhofstadt. Nun will Premier David Cameron weder Sie noch Martin Schulz von der SP. Kann es sein, dass die Briten zum dritten Mal ihren Willen aufzwingen?

Juncker: Genau dies wäre es auch: den Willen aufzwingen. Aber so wird es nicht sein. Es gibt aufgrund des EU-Vertrages die Möglichkeit, im Rat über den Kommissionspräsidenten abzustimmen und ihn mit qualifizierter Mehrheit zu nominieren. Ein britisches Veto kann es vertragsgemäß nicht mehr geben - es sei denn, die anderen Partner nehmen Rücksicht, suchen eine Konsenslösung, die aber nicht dem Wahlergebnis entspräche.

STANDARD: Wird man Cameron also überstimmen?

Juncker: Der Vertrag sagt, es soll das Ergebnis der Wahl berücksichtigt werden. Ich glaube nicht, dass die Premiers sich von London bis zum allerletzten Punkt werden treiben lassen. Die Mehrheit ist aufseiten des Wahlsiegers - egal, ob das Martin Schulz sein wird oder ich.

STANDARD: 27 von 28 Regierungschefs haben für die Spitzenkandidaten ihrer Parteifamilien votiert.

Juncker: Deshalb kann Großbritannien auch nicht die Hauptrolle spielen in diesem Zusammenhang. Wenn es nach dem Sonntag einen Wahlsieger gibt und dieser dann nicht zum offiziellen Kandidaten ernannt wird, und wenn ein dritter Mann auftaucht, dann wird ihn das Parlament ablehnen. Der Kandidat muss auch eine Mehrheit im Parlament bekommen.

STANDARD: Kanzlerin Angela Merkel, die Sie vorschlug, sagt, es gebe aber keinen Automatismus.

Juncker: Das heißt nichts anderes, als dass man eine Mehrheit für eine Kandidatur im Parlament hinter sich bringen muss.

STANDARD: Gehen Sie davon aus, dass Merkel Sie beim EU-Gipfel als Kommissionschef unterstützt?

Jucnker: Ich gehe nicht nur davon aus. Ich weiß das.

STANDARD: Wie wollen Sie Cameron überzeugen?

Juncker: Man wird sich in beide Richtungen bewegen müssen. Großbritannien ist ein Land, das normalerweise sehr genau am Buchstaben des Gesetzes entlang hantiert.

STANDARD: Haben Sie Zusagen von Regierungschefs für Ihre Wahl?

Juncker: Ja, die EVP-Regierungschefs werden dies im Falle eines Wahlsieges tun. Ich habe auch mit vielen SP-Premiers gesprochen, bevor ich das Angebot annahm. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 23.5.2014)

Die Langfassung des über mehrere Tage hinweg geführten Gesprächs finden Sie auf der nächsten Seite.

STANDARD-Korrespondent Thomas Mayer im Gespräch mit Jean-Claude Juncker.
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Jean-Claude Juncker plaudert in einem ausführlichen STANDARD-Interview zur EU-Wahl aus der Schule: Drei Tage lang hat Thomas Mayer den früheren Eurogruppenchef und EVP-Spitzenkandidaten und Favoriten für das Amt des nächsten Kommissionspräsidenten durch Portugal und Griechenland begleitet. "Ich rechne nicht nur damit, ich weiß es“, sagte er auf die Frage, ob die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ihn beim EU-Gipfel unterstützen wird. Von allen EVP-Premiers, aber auch einigen SP-Regierungschefs habe er bereits eine Zusage. Mit dem skeptischen Briten David Cameron werde es einen Kompromiss geben. Großes Lob findet Juncker für Kanzler Werner Faymann, einen "überzeugten Europäer“ und verlässlichen Partner. Zu Viktor Orban geht er auf vorsichtige Distanz. Die neue EU-Kommission will er viel effizienter und straffer führen, mit sechs bis sieben Vizepräsidenten, die für Hauptbereiche verantwortlich sind und die von Art Juniorkommissaren unterstützt werden. Juncker: "Ich will politische Profis und hungrige Junge, die was wollen in Europa, die mehr zu den Bürgern und in die nationalen Parlamente gehen“. Der Ex-Premier spricht über Machtverlust, die Schönheit von Europas Landschaften und gerät ins Träumen, während er beim Interview aus dem Flugzeugfenster in die untergehende Sonne über Griechenland blickt. Sollte der Sozialdemokrat Martin Schulz die Wahl gewinnen und eine Mehrheit im Parlament finden, müsse dieser Kommissionspräsident werden, befindet Juncker: "Wir beide sind so etwas wie Versuchskaninchen“. Die nächsten Wahlen im jahr 2019 werden für die Kandidaten noch viel professioneller und länger vorbereitet ablaufen.

STANDARD: Herr Juncker, Sie sind nach der Königin von England der vermutlich erfahrendste Politiker in Europa, haben seit den Umbrüchen 1989 alle wichtigen EU- und Euroentscheidungen an höchster Stelle miterlebt und bestimmt. Nun möchten Sie Kommissionspräsident werden, also große Macht gewinnen. Aber wie ist es eigentlich, wenn man die Macht verliert – so wie Sie im Oktober 2013, als sie nach 19 Jahren als Premierminister abgewählt wurden?

Juncker: Die Queen ist nicht gewählt. Ich war als Premierminister immer gewählt und bin auch im vergangenen Jahr wiedergewählt worden, sogar mit komfortabler Mehrheit, weil meine Partei bei der letzten Wahl in Luxemburg 34 Prozent der Stimmen erreicht hat. Und ich persönlich habe das landesweit beste Wahlergebnis erzielt. Ich fühle mich also in keiner Weise vom Wähler abgestraft. Die zweitstärkste Partei hatte nur 19 Prozent Wählerzustimmung.

STANDARD: Dennoch ist Xavier Bettel mithilfe der Sozialdemokraten und der Grünen Premierminister geworden, und Sie mussten in die Opposition, nach fast 30 Jahren in Regierungsämtern. Wie war das für Sie?

Juncker: Ich habe Opposition nie als etwas Unwürdiges empfunden. Ich habe ja auch die Zustimmung, die meine Partei und ich erfahren haben, mit in die Oppositionsrolle genommen. Ich bin der moralische Sieger der Wahl gewesen, und trotzdem in der Opposition gelandet. Es braucht drei, vier Tage, um das wegzustecken, weil es gegen das Wahlergebnis zustande gekommen ist. Aber Mehrheit ist Mehrheit. Und wenn eine Mehrheit außerhalb des normalen Wahlergebnisses zusammenfindet, dann muss man das akzeptieren.

STANDARD: Waren Sie nicht frustriert?

Juncker: Ich leide nicht unter Machtverlust. Ich wurde nicht abgewählt, ich wurde in die Opposition geschickt durch den Willen der anderen Parteien, nicht der Wähler. Es war also kein tödlich schmerzender Machtverlust, sondern ein ganz objektiver durch die Kraft der Ereignisse. Insofern hatte ich nie den Eindruck, dass ich die Macht verloren habe. Man hat sie mir genommen. Dadurch bin ich auf gewisse Weise freier geworden als vorher.

STANDARD: Schwer nachvollziehbar. Sie haben seit 1989 alle Veränderungen und Entscheidungen auf EU-Ebene nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mitgestaltet, als Finanzminister des Maastricht-Vertrag verhandelt, kennen die anderen Spitzenpolitiker in Europa seit ewig. Da muss es doch Entzugserscheinungen geben, wenn man als einfacher Abgeordneter in Luxemburg sitzt, oder nicht?

Juncker: Es ist eben nicht so, wie sie denken. Man nimmt dann zwar nicht mehr an allen Entscheidungen teil. Aber eben weil ich alle kenne, und mich alle kennen, war es nicht so, dass ich ausgesperrt gewesen wäre von europäischen Entscheidungsfindungen. Es gibt ja das Telefon. Viele besuchen mich. Wenn ich irgendwo bin, bitten mich viele zum Gespräch. Ich habe dieses frustrierende Gefühl, als ob ich aus einem europäischen Puzzlespiel herausgebrochen worden sei, so nie empfunden. Um es etwas pathetisch zu sagen. Ich habe noch immer das Gefühl, zur europäischen Landschaft zu gehören, wie eine französische Zeitung kürzlich geschrieben hat.

STANDARD: Sie haben gar nie aufgehört?

Juncker: Die europäischen Dinge hören ja auch nicht auf, die erreichen mich immer wieder, die fangen mich immer wieder ein. Es gab Tage, an denen ich mir fast wünschte, dass man mich doch bitte endlich in Ruhe lassen sollte. Aber ich stehe bei Europa in der Pflicht, das ist für mich eine Herzensangelegenheit.

STANDARD: Sie haben im Herbst angekündigt, dass Sie ihre Memoiren schreiben wollen.

Juncker: Das hätte ich auch gerne gemacht. Ich schreibe gerne. Und ich hatte während meiner Zeit als Eurogruppenchef überhaupt keine Zeit mehr, selber zu schreiben.  Dabei ertrage ich es nicht, wenn ich nicht selber schreiben kann, sondern nur noch unterschreibe, was andere aufgesetzt haben. Das hasse ich, weil das nicht ich bin. Ich bin ein ganzheitliches Ich erst, wenn ich selber schreibe. Deshalb war es in der Tat ein Lebenswunsch von mir, nun mit dem Schreiben meiner Memoiren anzufangen. Es gäbe da einiges zu schreiben. Doch dann bat man mich, Spitzenkandidat zu werden.

STANDARD: Viele haben sich gefragt, warum sie als Spitzenkandidat der  Europäischen Volkspartei für das Amt des Kommissionspräsidenten angetreten sind. Warum tut sich der Juncker das an, hat man von einigen in der Partei gehört. Warum also?

Juncker: Es entsprach auch nicht meiner Lebensplanung. Ich hätte schon 2004 ohne Mühe und Not Kommissionspräsident werden können.

STANDARD: Sie wurden damals von den Regierungschefs parteiübergreifend sogar richtig bekniet. Warum haben Sie abgelehnt?

Juncker: Ich habe kurz davor, vor der Wahl in Luxemburg 2004, den Luxemburgern gesagt, wenn ich aufgrund der Wahlergebnisse wieder Premierminister werden kann, dann werde ich das tun, weil das mein erstes Anliegen ist. Es haben mich dann am Wahlsonntag drei, vier Regierungschefs angerufen, und es waren das nicht die unbekanntesten, und haben gesagt: Jetzt hast Du ja die Wahl gewonnen, jetzt kannst Du ja nach Brüssel. Aber ich habe gesagt: Bitte, so funktioniere ich nicht. Wenn ich sage, ich bleibe in Luxemburg, sollte ich Premierminister werden, dann mache ich das auch so. Wenn ich das Mandat als Kommissionspräsident 2004 angenommen hätte, und das hätte ich mühelos geschafft, dann hätte ich immer Angst davor gehabt, dass ich am Sonntagnachmittag in Luxemburg durch die Straßen gehe und die Leute sagen: Da kommt der Verräter.

STANDARD: Es hat ihnen damals niemand geglaubt, dass sie den Kommissionspräsidenten wirklich ablehnen?

Juncker: Das haben die anderen Parteien im Wahlkampf verwendet, indem sie sagten, nach der Wahl wird er nach Brüssel gehen und das Amt dort annehmen. Das haben die später aber auch nie zurückgenommen.

STANDARD: Warum haben Sie sich nun zu Jahresanfang dann doch entschieden, bei dieser EU-Wahl als Kandidat um das Amt des Kommissionspräsidenten anzutreten?

Juncker: Nachdem ich und meine Partei in Luxemburg die Wahl im Oktober gewonnen hatten, und wir trotzdem in die Opposition abgedrängt wurden, ohne weitere Erläuterungen, da habe ich plötzlich fast aufatmend gerne zur Kenntnis genommen, dass ich jetzt ein freier Mann bin. Ich wäre natürlich wieder gerne luxemburgischer Premierminister geworden, die Leute haben sich dementsprechend ausgedrückt. Aber dann hatte ich plötzlich die Freiheit vor mir gesehen, wie das offene Meer. Ich konnte plötzlich für mich selbst entscheiden, ohne Rücksicht auf Aussagen, die ich vorher gemacht hatte. Und dann haben eben viele in der Europäischen Volkspartei, aber auch in anderen Parteien, mir geraten, als Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten zur Verfügung zu stehen.

STANDARD: Stimmt es, dass man sie geradezu überreden musste?

Juncker: Das stimmt schon. Mir war sehr bewusst, was ich mir zumute. Nicht nur im Wahlkampf, der ist anstrengend genug. Auch für die Zeit danach. Ich habe über 30 Jahre den Job des Kommissionspräsidenten beobachten können. Ich weiß, dass das ein knochenharter Job ist. Ich weiß, dass alle die, die einem zureden, das zu tun, so nach dem Motto: Europa braucht dich!, nachher zu den größten Kritikern gehören. Man bewegte in der Vergangenheit Menschen dazu Kommissionspräsident zu werden, und als sie es dann waren, hat man sie kritisiert. Das wird mir sicher nicht anders gehen.

STANDARD: Also wollen sie auch unbedingt Kommissionspräsident werden, es geht nicht nur darum, dass die EVP einen Kandidaten hat?

Juncker: Als Sie mich nach dem Machtverlust gefragt haben, wollte ich schon fast antworten: Machtverlust in Luxemburg, das ist etwas ganz anderes als ein Machtverlust in Berlin. Das ist eine sehr wichtige Frage an Politiker: Wie sind Sie mit der Macht umgegangen, und wie gehen Sie mit dem Verlust der Macht um? Meine Wunschvorstellung war, wenn ich mich allein auf meine Interessen fokussiert hätte, dass ich gerne darüber geschrieben hätte, was ich erlebt habe. Ich habe zwar gezögert, denn es leben noch sehr viele, über die ich zu schreiben hätte. So war zum Beispiel mein letzter Besuch in Moskau ein fünfstündiges Vier-Augen-Gespräch mit Putin. Ich war für ihn nicht der kleine Luxemburger, sondern einfach einer, der viel weiß. Und Putin wollte zuhören, und mit mir reden. Nicht wegen der Macht. Ich bin oft in Moskau, Peking, in Washington bei den Präsidenten gewesen und habe die Erfahrung gemacht, dass es dort für Deutschland, Frankreich und Großbritannien nur deshalb das Bild von Größe gibt, weil sie durch das Megaphon der Europäischen Union reden und da tonangebend sind. Wären sie das nicht, dann wären sie viel kleiner als Indonesien oder die Philippinen. Sie werden nur deshalb als groß wahrgenommen, weil sie als die großen in der EU wahrgenommen werden. Man braucht ein paar Jahre, um das zu kapieren. Dann weiß man, es gibt nicht die großen Tiere auf der einen Seite und die kleinen Flöhe auf der anderen Seite.

STANDARD: Ich wollte wieder zurückkommen zur Frage….

Juncker: Schauen Sie mal aus dem Fenster. Ist das nicht schön? Von Lissabon nach Athen zu fliegen, das ist doch wunderbar. Was mich an Europa am meisten fasziniert, ist, dass alle 150 Kilometer die Landschaft wechselt, ergo der Menschenschlag wechselt, die Stimmung, die Befindlichkeit. Europa kann man nur verstehen, wenn man seine Landschaften richtiggehend durchwandert. Wenn man sie nur überfliegt, dann fehlt einem etwas. Wenn ich von Luxemburg zum Stanglwirt nach Going fahre, dann erlebe ich zehn Landschaften. Wenn ich durch Amazonien oder Nordamerika fliege, 3000 Kilometer, da verändert sich kein Landschaftsbild. Das macht auch die Komplexität aus. Sorry, das war jetzt ein Umweg.

STANDARD: Deswegen sind Interviews im Flugzeug so reizvoll, vor allem, wenn die Sonne untergeht.

Juncker: Da merkt man, dass man Gefühle hat.

STANDARD: Bei der TV-Debatte der Spitzenkandidaten um das Amt des Kommissionspräsidenten haben Sie alle zu Beginn des verstorbenen belgischen Premierministers Jean-Luc Dehaene gedacht, der ein großer Europäer war. Das war insofern bemerkenswert, als dieser im Jahr 1994 Kommissionspräsident hätte werden sollen, was aber von Großbritannien per Veto verhindert wurde. Also wurde es im Kompromiss Jacques Santer, und so wurden Sie überraschend luxemburgischer Premierminister.

Juncker: Das ist wahr, das war beim EU-Gipfel von Korfu.

STANDARD: Ähnlich war es 2004, damals war Guy Verhofstadt  nach Ihrer Absage der Favorit, wurde aber von Tony Blair unter anderem verhindert, weil der ihm viel zu integrationsfreundlich war. Und jetzt sind Sie und Martin Schulz die Kandidaten bzw. Favoriten. Kann es sein, dass der Brite Cameron zum dritten Mal einen Favoriten für das Amt des Kommissionschefs verhindert?

Juncker: Es stimmt. Ich bin definitiv Premierminister geworden, weil John Major Dehaene verhindert hat. Santer wäre nie Kommissionspräsident geworden, wenn der Rat damals schon mit qualifizierter Mehrheit hätte abstimmen können. Dann wäre es nämlich Dehaene geworden, und ich wäre nicht Premierminister geworden.

STANDARD: Wahrscheinlich für lange Zeit.

Juncker: Nein. Ich hatte schon bei den Parlaments- und Europawahlen wesentlich mehr Stimmen eingefahren als Santer. Aber ich hatte keine Lust mit 39 Jahren ein politischer Vatermörder zu werden. Insofern war mir die Entscheidung egal. Großbritannien hat mir einmal geholfen etwas zu werden. Sie sollten nicht verhindern, dass ich zum zweiten Mal etwas werde.

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Der rechte Juncker möchte Kommissionspräsident werden.
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STANDARD: Da sind wir an einem entscheidenden Punkt. Kann es sich zum dritten Mal wiederholen, dass ein britischer Premierminister einen von den meisten erwarteten Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten verhindert? Wo bei ich das jetzt nicht nur auf Sie beziehe, sondern auch auf den SP-Spitzenkandidaten Schulz

Juncker: Ja, ja, schon klar, das trifft auf uns beide zu.

STANDARD: Sie beide sind die Favoriten, und es gibt eine Vereinbarung der Parteifamilien, dass der Wahlsieger es wird bzw. eine Mehrheit im Parlament suchen kann. Ist es möglich, dass der britische Premier, also heute David Cameron, allen anderen wieder seinen Willen aufzwingt?

Juncker: Genau das wäre dies, nämlich den Willen aufzwingen. Aber so wird es nicht kommen. Es gibt aufgrund des EU-Vertrages die Möglichkeit, im Rat über den Kommissionspräsidenten abzustimmen und ihn mit qualifizierter Mehrheit zu nominieren. Ein britisches Veto kann es vertragsgemäß nicht mehr geben, es sei denn, die anderen nehmen Rücksicht auf Großbritannien und suchen eine Konsenslösung, die nicht dem Wahlergebnis entspricht.

STANDARD: Glauben sie, dass es zu einer Abstimmung käme, bzw. dem Überstimmen der Briten?

Juncker: Das hängt von den anderen Regierungschefs ab. Der Vertrag sagt, es soll das Ergebnis der Europawahl berücksichtigt werden, und er sagt auch, es wird im Rat mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt. Ich glaube nicht, dass die Regierungschefs sich von Großbritannien bis zum allerletzten Punkt werden treiben lassen. Die Mehrheit ist auf Seiten des Wahlsiegers, egal ob das Schulz sein wird oder ich.

STANDARD: Schulz und Verhofstadt haben in Interviews mit uns gesagt, ihre Parteifamilien werden im EU-Parlament nur für einen der nominierten Spitzenkandidaten als künftigen Kommissionschef stimmen. An der Vorwahl für diese Kandidaten haben sich 27 von 28 Regierungschefs beteiligt, nur Cameron nicht.

Juncker: Deshalb kann Großbritannien auch nicht die Hauptrolle spielen in diesem Zusammenhang. Im Übrigen treibt mich das gar nicht so sehr um. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn es nach dem Sonntag einen Wahlsieger gibt, und dieser Wahlsieger dann nicht zum offiziellen Kandidaten ernannt wird, und wenn da ein dritter Mann sozusagen auftaucht, dann wird das Parlament das ablehnen. Der Kandidat muss ja am Ende eine Mehrheit im EU-Parlament bekommen. Insofern stimmt es auch, wenn man sagt, es gibt keinen Automatismus für den Wahlsieger.

STANDARD: In der Öffentlichkeit herrscht derzeit jedenfalls Konfusion, dass man Spitzenkandidaten hat, aber gleichzeitig heißt es, die müssen nicht unbedingt Kommissionspräsidenten werden. Die Leute verstehen das nicht.

Juncker: Dafür kann man auch kein Verständnis haben. Ich sag das nicht gerne, aber Schulz und ich, wir sind sozusagen die Versuchskaninchen. Wir sind die, die zuerst starten, sich eine Mehrheit zu suchen. Verhofstadt, den ich als langjährigen Kollegen als Premierminister sehr schätze, spielt dabei eher eine marginale Rolle. Ein wirkliches Volumen, eine Schubkraft wird diese Art des Wahlkampfes um den Kommissionspräsidenten aber erst bei der nächsten Wahl 2019 kriegen – wenn wir diesmal im Ergebnis erfolgreich sind.

STANDARD: Es gibt Defizite im Verfahren?

Juncker: Ich bin spät gestartet, wegen des internen Entscheidungsprozesses in der EVP. Schulz ist schon lange unterwegs, was ich ihm nicht vorwerfe. Nächstes Mal wird es nicht so sein, dass man bis zwei Monate vor der Wahl wartet, um einen gemeinsamen Spitzenkandidaten aufzustellen. Die nächsten werden viel früher auf dem Weg sein.

STANDARD: Warum gehen sie davon aus, dass die Regierungschefs Sie zum Kommissionspräsidenten nominieren werden, wenn Sie die Wahl gewinnen? Gibt es da bereits Zusagen, nicht nur von ihren Parteifreunden? Warum relativiert die deutsche Kanzlerin Merkel das öffentlich.

Juncker: Nein, wenn sie sagt, dass es keinen Automatismus für den Wahlsieger gibt, heißt das nichts anderes, als dass man eine Mehrheit für eine Kandidatur im Parlament hinter sich bringen muss, die vom Europäischen Rat vorgeschlagen wurde. Der Kommissionspräsident wird ja nicht ernannt, er wird vom Europäischen Rat nur vorgeschlagen. Man braucht eine Mehrheit der Sitze im Parlament, dieses ist die letztentscheidende Instanz. Insofern könnte es so sein, dass der Kandidat keine Mehrheit im Parlament hat, und man einen zweiten Versuch machen muss. Man muss nach Lenin versuchen, die Dinge hinter den Dingen zu sehen. Was Merkel sagt, ist also einfach vertragskonform. Aber ich weiß von den EVP-Regierungschefs, dass sie für mich eintreten werden, wenn ich die Wahl gewinne.

STANDARD: Das heißt, Sie gehen davon aus, dass Merkel Sie im Europäischen Rat unterstützen wird?

Juncker: Ich gehe nicht nur davon aus, ich weiß das.

STANDARD:Das Reizvolle jetzt ist, dass ich mit jemandem spreche, der alle Nominierungen von EU-Kommissionspräsidenten seit 1999 – Romano Prodi und eben José Manuel Barroso – aktiv als Regierungschef mitgemacht hat, der weiß, was da hinter verschlossenen Türen abläuft. Der alle Details kennt, genau weiß, warum jemand es nicht wurde. Also wie läuft das?

Juncker: Ich saß 2004 mit Verhofstadt hinter verschlossenen Türen zusammen. Ich weiß, wie das geht. Ich habe mich übrigens für Verhofstadt eingesetzt.

STANDARD: Wie läuft so was ab?

Juncker: Es wird diesmal anders sein, weil die Vertragslage anders ist. Man wird sich beim informellen EU-Gipfel am 27. Mai über prozedurale Fragen unterhalten: Was muss Herr van Rompuy tun und in welchem Gesprächstempo mit dem Europäischen Parlament, um den Prozess zu vollenden?

STANDARD: Man wird also noch nicht den Namen des nominierten Präsidenten kennen?

Juncker: Ich glaube nicht, dass man das gleich wird sagen können. Die Wahl des Kommissionspräsidenten ist für den 15. Juli terminiert. Davor wird der Wahlsieger einige Wochen lang mit Parlament und Europäischem Rat verhandeln müssen.

STANDARD: Wie wollen Sie Ihre früheren Kollegen von sich selber überzeugen, insbesondere David Cameron.

Juncker: Ich bin der erste, der sich damit intensiv beschäftigt hat, was die britische Frage betrifft und mögliche Lösungen. Man wird sich in beide Richtungen bewegen müssen. Aber ich werde keine gesonderten Kontaktaufnahmen betreiben. Die Sachlage wird am 25. Mai klar sein. Und dann werden sich die handelnden Personen entscheiden müssen, ob sie den Vertrag zur Anwendung bringen, oder ob sie dem Vertrag entschlüpfen. Großbritannien ist ein Land, das normalerweise sehr genau am Buchstaben des Gesetzes entlang hantiert.

STANDARD: Haben Sie schon Zusagen für ihre Wahl also, und wie viele?

Juncker: Ja, die EVP-Regierungschefs werden dies im Fall eines Wahlsieges tun. Ich habe auch mit vielen sozialistischen Regierungschefs geredet, noch bevor ich das EVP-Angebot angenommen habe, und ich denke, dass die genauso handeln werden. Aber ich werde nicht das tun, was sie vermuten, dass ich es tun könnte, müsste, sollte. Ich werde nach der Wahl nicht zum Telefonhörer greifen. Vertrag ist Vertrag.

STANDARD: Eine Frage noch zum österreichischen Regierungschef, Werner Faymann. Ich habe ihn vergangenes Jahr gefragt, welchem Premier im Rat er am meisten nahesteht. Und er hat eine für mich überraschende Antwort gegeben.

Juncker: Für mich nicht.

STANDARD: Sie kennen die Antwort?

Juncker: Ja, natürlich. Ich lese ja, was Sie schreiben.

STANDARD: Er hat ohne nachzudenken geantwortet: Jean-Claude Juncker. Mich hat das überrascht. Ich hätte damit gerechnet, er nennt einen SP-Parteifreund. Er hat es damit begründet, dass sie im Sinne der christlichen Soziallehre für soziale Politik stehen, die ihm als Sozialdemokraten entspricht.

Juncker: Man sollte das in einem Wahlkampf ja nicht sagen, aber ich sage es trotzdem. In europäischen Dingen gibt es keinen scharfen Partisanenkampf mit den Vertretern anderer Parteien. Jaques Delors hat einmal gesagt: "Europa ist das Kind der Liebe zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten." Eine schöne Formulierung. So ähnlich sehe ich das auch. Und ich habe zu sozialistischen Regierungschefs immer ein ausgezeichnetes Verhältnis gehabt. Ich arbeite mit Menschen zusammen, nicht mit Parteipolitikern.

STANDARD: Wie sehen Sie Faymann?

Juncker: Ich sehe ihn als jemand, der einen Kanon von europäischen Werten verinnerlicht hat, was ihn zu einem überzeugten Europäer macht, auch wenn diese Formel heute für viele etwas abgegriffen klingt. Er hat das im Blut wie viele österreichische Politiker übrigens.

STANDARD: Wenn man Sie im Wahlkampf beobachtet, hat es manchmal den Anschein, als würden Sie versuchen, als der bessere Sozialdemokrat aufzutreten. Sie betonen die Frage der sozialen Gerechtigkeit stark. Warum?

Juncker: Das ist jetzt aber eine Schulz-inspirierte Formulierung.

STANDARD: Der Spitzenkandidat der SPE.

Juncker: Aber wenn Martin Schulz denkt, es gäbe bessere Sozialdemokraten als ihn, und ich wäre einer, dann wehre ich mich aus wahlkampftaktischen Gründen nur unerheblich stark dagegen.

STANDARD: Kritiker sagen, das sei nur ein Ablenkmanöver vom Umstand, dass sie für eine Parteifamilie als Spitzenkandidat antreten, in der es ganz andere Parteichefs gibt, wie Viktor Orban oder Silvio Berlusconi, die eine ganz andere Position vertreten, sogar nationalistische Politik.

Juncker: Das ist wahr, da ist was dran, weil es erhebliche Unterschiede gibt in der Schnittmenge zwischen Orban, Berlusconi und mir. Das gilt aber genauso für Martin Schulz mit anderen SP-Parteichefs.

(In diesem Moment setzt das Flugzeug auf der Landebahn in Athen auf)

STANDARD: Ich habe schon viele Interviews gemacht, aber noch nie eines während der Landung.

Juncker: Dies wäre nicht das erste Interview, das mit einer Bruchlandung endet. Aber im Ernst, ich würde das Gespräch gerne weiterführen.

Standard: Das machen wir in Athen.

(Teil 2, Hotel am Abend nach einem Tag voller Wahlkampfveranstaltungen)

Juncker: Wo waren wir also stehengeblieben?

STANDARD: Wir haben darüber geredet, dass Sie als der bessere Sozialdemokrat auftreten im Wahlkampf, und darüber, dass Kritiker Ihnen vorhalten, dass Sie jedoch auch für Orban und Berlusconi stehen, deren Parteien in der EVP sind. Ist das Ihre Schwachstelle im Wahlkampf?

Juncker: Herr Schulz vertritt auch besonders austeritätshörige Sozialdemokraten, wie die finnischen zum Beispiel oder die niederländischen. Und ich vertrete nicht jeden in der Europäischen Volkspartei mit der gleichen Begeisterung, um es überaus freundlich auszudrücken. Und ich glaube auch nicht, dass Martin Schulz zum Beispiel die bulgarischen Sozialisten begeistert vertritt bzw. alles richtig findet, was der rumänische Premierminister Ponta so alles veranlasst hat in letzter Zeit. Die politischen Gruppierungen und Familien haben mehr Probleme als nationale Parteien, weil es kein einfaches Konglomerat ist. Jeder bringt seine eigene Farbe, seine eigene Tonlage ein. Langfristig werden diese gemeinsamen Spitzenkandidaturen dazu beitragen, dass die europäischen Parteifamilien näher zusammenrücken. Ich werde das nach der Wahl übrigens auch darlegen. Ich werde in meiner eigenen Parteifamilie etwas zur inneren Kohärenz sagen.

STANDARD: Glauben Sie, dass Parteifamilien in Zukunft kompakter werden, programmatisch gesehen?

Juncker: Das Programm ist nicht so sehr das Problem. Wahlprogramme sind so weit aufbereitet, dass jeder darunter unterschlupfen kann. Es geht mehr um das Wahlkampfbenehmen, indem zum Beispiel Länder gegeneinander ausgespielt werden. Was übrigens den Vorwurf an mich betrifft, ich wolle nur der bessere Sozialdemokrat sein, will ich sagen: ich lasse nicht zu, wenn die Sozialisten so tun als hätten sie ein Monopol auf eine Politik des Herzens. Es ist nicht so, dass die EVPler die Austeritätshörigen sind, und die Sozialisten nur die sozialen Gutmenschen. Wir in der EVP wissen, das Schuldenmachen zutiefst unsozial ist, da dies künftige Generationen des Geldes für Schulden, Hospitäler und ein leistungsfähiges Sozialsystem nimmt. Wir treten deshalb auch aus sozialen Gründen für eine Gesundung der Staatsfinanzen ein.

STANDARD: Die Hauptkritik sind doch aber im Falle Orbans rechtsstaatliche Bedenken, wenn es darum geht, dass er sich die Verfassung zurechtbiegt mittels der Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, und das auf Kosten der Minderheiten. Warum weist das keiner offen zurück?

Juncker: Die EU-Kommission hat das doch gemacht.

STANDARD: Aber nicht die EVP.

Juncker: Es war die luxemburgische Justizkommissarin Viviane Reding, die aus der EVP kommt, die die Verfahren gegen Ungarn geführt hat, gegen alle Widerstände zunächst, nicht nur von rechtskonservativen Kräften, sondern auch der Sozialdemokraten. In Sachen Ungarn hat Reding sich sehr dezidiert zu Wort genmeldet, übrigens mit meiner ausdrücklichen öffentlichen Unterstützung, und am Ende mit Billigung des Europäischen Gerichtshofs. Das hat nur kaum jemand zur Kenntnis genommen, ebenso wenig wie dass die Partei von Herrn Orban meine Kandidatur auf dem Parteikongress in Dublin nicht unterstützt hat.

STANDARD: Wird er sich mit Cameron gegen Sie querlegen?

Juncker: Ich will mich damit nicht beschäftigen. Ich will diesen Wahlkampf in geordneten Bahnen zu Ende führen. Primitive Attacken auf Mitbewerber, das ist nicht mein Ding. Ich gehe davon aus, dass ich Kommissionspräsident werde. Auf jeden Fall rede ich vor den Wahlen genauso, wie ich nach den Wahlen reden werde. Die anderen Kandidaten nehmen sich im Übrigen sehr viele Freiheiten bei der Darstellung der künftigen Ausrichtung der Kommission, ohne zu überprüfen, ob es dafür auch nur annähernd breite Mehrheiten in Europa gibt.

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In Brüssel darf sich Juncker über zahlreicher Unterstützer freuen.
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STANDARD: Kommen wir zur programmatischen Arbeit der Kommission. Die wurde bisher vom Christdemokraten Barroso geführt, es gibt relativ viele liberale Kommissare. Was soll sich also inhaltlich unter ihrer Führung ändern, wenn sie nicht mehr unter dem Deckmantel des besseren Sozialdemokraten wahlkämpfen?

Juncker: Ich war 17 Jahre lang Arbeitsminister in meinem Land. Der Mindestlohn in Luxemburg ist der höchste in ganz Europa, mit unglaublichem Vorsprung gegenüber anderen Ländern. Es gibt Länder, die haben überhaupt keinen Mindestlohn. Wie ist das möglich? Ich bin dafür, dass alle Länder einen nationalen, der nationalen Wirtschaftslage jeweils angemessenen Mindestlohn einführen. Ich habe in Sachen sozialer Politik keinen Nachholbedarf, da braucht man mir keine Lektionen zu erteilen. Da muss ich mir nicht erst ein Mäntelchen umhängen. Ich habe schon 1985 für ein Mindestsoll an Arbeitnehmerrechten gekämpft. Sogar Delors war damals noch dagegen.

STANDARD: Was hätten sie anders gemacht als Barroso?

Juncker: Das beantworte ich so nicht.

STANDARD: Das Ergebnis der Politik der letzten Jahre ist doch auch eine riesig hohe Arbeitslosenzahl.

Juncker: Die riesige Arbeitslosenzahl ist ein echtes Problem. Und viele Menschen assoziieren ja Europa mit dieser furchtbaren Lage auf den Arbeitsmärkten. Aber das ist ja nicht das Ergebnis der Eurorettungspolitiken. Es ist das das Ergebnis der nationalen Politik, die zu dieser Rettungspolitik erst geführt hat. Man vergisst das immer wieder. Es gibt ja niemanden in Europa, der bewusst eine solche Situation herbeiführen würde, eine solche Arbeitslosigkeit.

STANDARD: Aber dennoch ist sie in einigen EU-Staaten da, vor allem im Süden.

Juncker: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man dauerhaftes Wachstum nicht auf ständig rote Zahlen aufbauen kann. Wer dies tut, verschiebt die Verantwortung auf die nächste Generation anstatt sie selber zu tragen. Und wer Defizite durch weitere Defizite bekämpft, und Schuldenberge auftürmt, der sorgt dafür, dass in den zukünftigen nationalen Haushalten das Geld fehlen wird, weil ein sehr beträchtlicher Teil der staatlichen Haushalte durch den Schuldendienst aufgefressen werden wird. Und dann fehlt genau das Geld, das man braucht um zukunftsorientierte öffentliche Investitionen zu finanzieren.

STANDARD: Ist genau das der eigentliche Unterschied zu den Sozialdemokraten in diesem Europawahlkampf, die ein Ende der Sparpolitik fordern?

Juncker: Ja. Ich sage manchmal spaßhalber, dass die Sozialdemokraten mich an Christoph Kolumbus erinnern. Er stach in See, und wusste nicht, wohin er fuhr. Als er ankam, wusste er nicht, wo er war. Und der Steuerzahler hat die Reise bezahlt. So wirtschaften die Sozialisten. Wir sind nicht allergisch gegen rot, aber wir sind allergisch gegen rote Zahlen.

STANDARD: Jetzt muss ich Ihnen entgegenhalten und sagen, es gibt auch andere Sozialdemokraten, die sehr wohl für eine solide Haushaltsführung stehen, siehe Niederlande oder Finnland oder Österreich.

Juncker: Deshalb sollte Schulz auch nicht so tun, als sei Sparpolitik eine Erfindung der Christdemokraten. Es gibt Sozialdemokraten, die in der Eurokrise gegenüber den Programmländern wie Griechenland oder Portugal wesentlich härter aufgetreten sind, sodass ich denen als Eurogruppenchef des öfteren entgegentreten musste, weil ich fand, dass das maßlos übertrieben war. Und das waren keine konservativen Politiker oder Reaktionäre, sondern das waren Sozialdemokraten.

STANDARD: Stichwort Eurogruppenchef. Wie steht denn nach Ihrer Einschätzung Europa als ganzes da in der Welt, jenseits der ideologischen Unterschiede, die wir in der Union zwischen den Parteien haben? Wie steht das globale Spiel, wie kann Europa sich behaupten.

Juncker: Das ist das eigentliche Zukunftsthema in Europa, dass wir wirtschaftlich schwächer werden, egal wer gerade in den Ländern regiert. Unser EU-Beitrag zur globalen Wirtschaft wird abnehmen. Wir stehen heute bei 25 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Das wird sich nach unten bewegen. In 30 Jahren wird kein einziges EU-Land mehr Mitglied der G-7-Gruppe der stärksten Industriestaaten sein. Wir werden dort nicht mehr vertreten sein, wenn es nach Bemessen der wirtschaftlichen Kraft ginge.  Und wir sind demografisch auf dem absteigenden Ast. Von 20 Prozent Anteil an der Weltbevölkerung Anfang des 20. Jahrhunderts landen wir bei vier Prozent von dann 10 Milliarden Menschen auf der Welt.

STANDARD: Und was bedeutet das für Europa, für Sie, wenn Sie Kommissionschef werden?

Juncker: Wäre ich nicht Luxemburger, würde ich vor Kleinstaaterei warnen. Wir müssen enger zusammenstehen in Europa, wenn wir Einfluss in der Welt haben wollen. Deshalb ist das Thema Wettbewerbsfähigkeit so wichtig. Wir verlieren seit zehn bis fünfzehn Jahren deutlich an Wettbewerbsfähigkeit. Die, die sich drum gekümmert haben, stehen deutlich besser da, als diejenigen, die sich nicht um Wettbewerbsfähigkeit bemüht haben. Ich gehe nicht so weit wie Tony Blair das einmal in der französischen Nationalversammlung gesagt hat, dass es längst nicht mehr um links oder rechts ginge. Es geht aber in der Tat darum, dass die Linken und die Konservativen und die Christdemokraten gemeinsam die richtige Politik machen.

STANDARD: Das Ende der Ideologien in der Wirtschaftspolitik?

Juncker: Es gibt in Europa diesen Widerspruch in der Wirtschaftspolitik nicht wirklich. Es gibt ihn im Wahlkampf. Es gibt tendenziell eine etwas laxere Herangehensweise der Sozialdemokraten in der Haushaltspolitik, aber keine großen Gegensätze.

STANDARD: Nun gibt es in ihrem Land, in Luxemburg, keine radikal rechten Parteien, die die Schuld an der Wirtschaftsmisere, an den hohen Arbeitslosenzahlen vor allem in der EU sehen.

Juncker: Der Rechtsradikalismus in Österreich oder auch in Frankreich ist ja nicht wegen europäischer Fehlleistungen entstanden.

STANDARD: Sondern?

Juncker: Das ist Folge der internen Auseinandersetzung, beispielsweise in Österreich. Haider ist ja nicht groß geworden, weil er prinzipiell nur mit dem Thema Europa beschäftigt hat. Er hat sich mit internen Vorgängen und Prozessen beschäftigt, und damit einen ungeheuer breiten Zuspruch erhalten. Le Pen in Frankreich, Vater und Tochter, übertragen jetzt gerade auf Europa jene Unbill, die vorher in Frankreich erzeugt wurde.

STANDARD: Sie sind stark wegen der Schwäche der Regierungen?

Juncker: Nicht nur der Regierungen. Es gab eine Auflehnung gegen das politische System in einigen Ländern. Das ist in Österreich unverkennbar der Fall gewesen. Das wird jetzt auf Europa übertragen. Es wird deshalb besonders stark, weil die Menschen nicht verstehen, was in Europa passiert. Meine Angst während der Krise war immer, dass man immer die Frage gestellt hat: Was machen die da in Europa? Die verbrennen unser gutes Geld. Es wurde von den Populisten oft so beschrieben, als würden wir aus Spaß an der Freude das Geld über die Theke schieben. Aber das war ja nicht so.

STANDARD: Was ist Ihre Antwort darauf, was wollen Sie gegen Populisten tun?

Juncker: Meine These ist: Populisten und Rechtsradikale sind auf nationaler Ebene entstanden, und deshalb muss man auch primär in den Nationalstaaten selbst gegen den Populismus und Radikalismus vorgehen. Die Antwort liegt in den nationalen Systemen, bei der Gestaltung. Ich hätte gerne, wenn ein Europäer am 25. Mai zur Wahl geht, dass er drüber nachdenkt was passieren würde, wenn alle in Europa so abstimmen würden wie er. Jeder, der Rechtsradikale in Österreich wählt, muss sich die Frage stellen, wenn alle in Europa so wählen würden, was passiert dann mit meinem Land? Das ist die Frage, die jeder sich stellen muss.

STANDARD: Haben Sie Sorge, dass die Stimmung ernsthaft in Europa zu den Rechtsradikalen kippen könnte? Vor zehn Jahren, als Vater Le Pen in Frankreich in die Stichwahl um die Präsidentenwahl kam, da gab es schon einmal eine rechte Erfolgswelle, nicht zuletzt mit Jörg Haider.

Juncker: Ich glaube nicht, dass es einen Durchmarsch der Rechten geben wird. Aber ich hätte gerne, dass wir deren Vormarsch stoppen, damit es nicht zu einem Durchmarsch kommen kann. Ich glaube, dass die Rechtsextremen bei dieser Wahl zulegen werden, sitzmäßig ebenso wie prozentuell. Aber ich glaube auch, dass dieses Phänomen sich in fünf Jahren erledigen wird, wenn wir es schaffen, aus diesem Klein-Klein heraus zu kommen und die Probleme lösen können.

STANDARD: Liegen die Probleme und die EU-Skepsis nicht einfach auch daran, dass die EU-Kommission viel mehr raus müsste zu den Bürgern? Es gibt einfach viele Bürger die sagen, wir verstehen Europa einfach nicht.

Juncker: Es hat damit zu tun, dass viele Regierungen in der Beschreibung des eigenen und des gemeinsamen Tuns es mit der Ehrlichkeit nicht immer so genau nehmen. Alles was schiefläuft, wird Brüssel zugeschrieben. Und alles was einigermaßen gut funktioniert, das wird der eigenen Staatskunst zugeschrieben. Aber so ist das ja nicht. Mich ärgerte immer, dass nach EU-Gipfeln alle vor die Presse treten und sich zum Sieger erklären. Und ich habe über 140 EU-Gipfel mitgemacht. Man sollte sich einfach sich des Grundsatzes erinnern, dass wir in Europa alle gemeinsam gewinnen und verlieren. Diese Selbstbeweihräucherung der Staaten ist ja so durchsichtig. Man sollte sich zurücknehmen, wenn man über europäische Beschlüsse berichtet, ob gut oder schlecht.

STANDARD: Wäre es nicht nötig, dass europäische Institutionen, die Präsidenten von Kommission und Rat, für mehr Gemeinsamkeit sorgen, die Länder auf einen Nenner zu bringen?

Juncker: Das findet ja statt. Barroso und Van Rompuy versuchen das ja. Die sind ja nicht unterwegs, um Europa zu schwächen, sondern geben sich alle Mühe, Europa weiter zu bringen.

STANDARD: Wenn Sie Kommissionspräsident werden, was werden Sie anders machen an der Kommission? Was kann man von Ihnen erwarten?

Juncker: Ich glaube, dass die Menschen an institutionellen Fragen nicht sehr interessiert sind. Der Österreicher, der bei der Nationalratswahl abstimmt, beschäftigt sich auch nicht damit, welches Gewicht die einzelnen Institutionen in Österreich haben sollen. Das ist in Europa genau das gleiche. Das sind Sandkastenspiele. Ich hätte gerne, dass die Kommission effizienter arbeitet, es eine Kompetenzbündelung in den Händen der zu ernennenden Vizepräsidenten gibt, denen dann von anderen Kommissaren zugearbeitet wird. Aber ich möchte mich dazu nicht im Detail äußern. Falls ich Präsident werde, möchte ich das als erstes im Kollegium der Kommissare besprechen.

STANDARD: Von der Papierform her könnten sie das tun, der Präsident hat eine große Machtfülle. Wollen Sie ein paar starke Seniorminister, die von einer Art Staatssekretären unterstützt werden?

Juncker: Ich will Ihnen dazu jetzt gar keine Festlegungen präsentieren. Mit geht es darum, dass die Kommission in Zukunft effizienter arbeiten kann, und dass sie sich auch mehr bewegt. Kommissare müssen die nationalen Parlamente viel öfter besuchen, sich mit nationalen Journalisten und nicht nur mit Brüsseler Korrespondenten über europäische Themen unterhalten.

STANDARD: Sie müssen sich auch mehr öffentlich rechtfertigen?

Juncker: Es geht nicht nur um Rechtfertigung. Politik lebt von der Erklärungsintensität, die man ihr einräumt, oder sie geht in der Erklärungsnot unter. Zur Zeit ist es so, dass wir uns sehr oft in Erklärungsnot befinden. Auch weil wir uns zu wenig Mühe geben, die europäischen Dinge zu erklären, die meist sehr kompliziert sind, weil unser ganzer Kontinent kompliziert ist. Ich will aber damit nicht sagen, dass es nur an Erklärungen liegt. Politik kann auch falsch sein.

STANDARD: Welche Kommissare wünschen Sie sich von den Regierungschefs?

Juncker: Ich hätte gerne, dass die nächste Kommission eine politische Kommission wird. Ich mag es nicht, dass Kommissare manchmal als Beamte beschrieben werden. Sie sind das nicht, sondern sie sind politische Wesen, und daher sollte die Kommission wirklich aus gestandenen Politikern zusammengesetzt sein bzw. Jüngeren, die eine Zukunftsbegeisterung mitbringen. Die Lust auf Zukunft haben. Und natürlich wünsche ich mir, dass viele Premierminister starke weibliche Kommissare vorschlagen, so wie ich als Premierminister dies selbst dreimal getan habe.

STANDARD: Wie stark werden Sie sich bei der Auswahl der Kommissare einmischen.

Juncker: Der Vertrag sagt, dass die Kommissare in einem konzertierten Verfahren von Kommissionspräsident und nationalen Regierungen bestimmt werden, bevor das Europäische Parlament über die gesamte Kommission abstimmt.

STANDARD: Und der Hohe Vertreter für die Außenpolitik?

Juncker: Wird von den Regierungschefs und dem Kommissionspräsidenten bestimmt. Ich wünsche mir eine aktivere Außenpolitik, was sich leicht sagen lässt, aber nicht leicht zu gestalten ist. Für den Rest der Welt erscheint es oft so, als hätten wir 28 europäische Außenpolitiken, und noch eine 29. Nebenbahn dazu, die wir europäische Außenpolitik nennen. Das muss sich ändern.

STANDARD: Gemäß den Umfragen dürften nicht nur die EVP, sondern auch die Liberalen und die Grünen bei den EU-Wahlen deutlich an Mandaten zu verlieren. Fragt sich, wie man zu einem von der Mehrheit des Parlaments getragenen Programm für die Kommission kommt. Läuft das auf eine große Koalition von EVP und SPE hinaus?

Juncker: Der Kandidat, der von den Regierungschefs nominiert wird, muss sich eine eigene Mehrheit im Parlament verschaffen. Eine Mehrheit hat man erst dann, wenn man das Programm in großen Zügen auf ähnliche Linien der Partner gebracht hat. Dann wird man sehen müssen, ob es fünf Jahre hält.

STANDARD: Sie galten von Anfang an auf der europäischen Bühne als eines der ganz großen politischen Talente, aber auch als ein Schwieriger. Helmut Kohl hat sie mit dem Spitznamen Junior bedacht. Wie würden Sie sich eigentlich persönlich einschätzen.

Juncker: Über mein Menschsein gebe ich keine Auskunft. Obwohl ich durchaus eine recht gute Meinung von mir habe und meiner Fähigkeit, die Europäer einander näher zu bringen. Ich sehe mich als einen konsenshungrigen Menschen. Ich bin der Meinung dass wir diese Trennungslinien in Europa nicht länger aufrecht halten sollten, beispielsweise zwischen den alten und den neuen EU-Mitgliedstaaten. In den vergangenen zehn Jahren sind 13 Staaten der EU beigetreten. Da heute noch von neuen Staaten zu reden, das halte ich für eine Beleidigung. Ich glaube auch nicht, dass die tugendhaften Staaten nur im Norden verorten lassen, und ich bin nicht der Meinung, dass die schwachen und zur Sünde fähigen Staaten Europas sich im Süden zusammengerottet haben. Deshalb sage ich: Konsens, Brückenbauer. Ich bin jemand, der fanatisch ist bei der Konsenssuche, solange ein Kompromiss eine Lösung darstellt. Ich bin gegen Scheinkompromisse. Ohne Kompromisse kann die Demokratie nicht leben. Aber ohne Lösung der Sachfragen sie auch nicht leben. Deshalb darf es keine faulen Kompromisse geben, sondern nur Lösungskompromisse. (Thomas Mayer, derStandard.at, 23.5.2014)