Familienministerin Sophie Karmasin hat es auf den Punkt gebracht: Alle sonnen sich im Schatten von Conchita Wurst. Metaphern sind eben Glückssache, selbst für Ministerinnen, aber Karmasin hatte dennoch recht: Österreich steht gegenwärtig im Banne der Wurst, die ganze Nation scheint hypnotisiert von der bärtigen Lady, keine Zeitung oder Zeitschrift, die sie nicht mit Schlagzeile und Foto auf ihren Titelseiten präsentiert, kein Politiker, der in diesen letzten EU-Wahlkampftagen darauf verzichten möchte, gemeinsam mit Conchita, der Siegerin, für die Fernsehkameras zu posieren.

So ließen es sich selbst Bundeskanzler Werner Faymann und Kulturminister Josef Ostermayer am Sonntag nicht nehmen, den Eurovisions-Star im Bundeskanzleramt zu empfangen, vor dem sich rund 10.000 begeisterte Fans versammelt hatten. Da konnte auch die Kirche nicht abseitsstehen: Kardinal Christoph Schönborn versicherte, er werde für Conchita "um Gottes Segen beten" und konzedierte, dass es "im bunten Garten Gottes" auch Menschen gebe, die sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlten.

Die "Heilige Kümmernis"

Und flugs wurde in einem alten Amtsgebäude der steirischen Ortschaft Geistthal ein Kruzifix mit einer bärtigen Dame entdeckt: Dabei handelt es sich um die "Heilige Kümmernis", nach einer Legende aus dem 15. Jahrhundert die zum Christentum bekehrte Tochter eines heidnischen Königs, die sich mit ungewöhnlichen Mitteln gegen eine von ihrem Vater erzwungene Heirat zur Wehr setzte. Sie bat inständig um körperliche Verunstaltung - und wurde erhört: Ihr wuchs ein Bart. Der erzürnte Vater ließ sie ans Kreuz schlagen, von dem aus sie viele zum Christentum bekehrt haben soll - vor allem den reuevollen Vater.

Andere wiederum fühlen sich an Strawinskys Oper The Rake's Progress erinnert, in der bekanntlich Baba, die temperamentvolle, bärtige Türkin (Mezzosopran) eine - nicht unwichtige - Rolle spielt. Die Hauptfigur dieser Oper heißt übrigens Tom, aber Tom Neuwirth kann dies egal sein: Die von ihm geschaffene Kunstfigur Conchita wurde über Nacht zur nationalen Kultfigur und ihr schwarzer Bart zum omnipräsenten Symbol.

Charles Ritterband war von 2001 bis 2013 Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" in Österreich und arbeitet weiter für die "NZZ" von Wien aus. (Charles Ritterband, DER STANDARD, 21.5.2014)