Softporno oder Parodie auf slawische Klischees - der polnische Beitrag zum Song Contest der Gruppe Donatan & Cleo provozierte.

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Wien - Dean Vuletic, Historiker für europäische Geschichte, hat bereits eine beachtliche akademische Laufbahn hinter sich. Er forschte als Fulbright-Stipendiat in Yale und machte seinen Doktor an der Columbia University, er arbeitete als Max-Weber-Fellow an der Europa-Universität in Florenz, und seit 2013 ist er Bezieher des renommierten Marie-Curie-Stipendiums, mit dem er nun am Institut für osteuropäische Geschichte an der Uni Wien arbeitet. Sein Forschungsgegenstand hingegen tut sich manchmal schwer mit der Anerkennung: Vuletic forscht über den Song Contest.

"Eurovision. A History of Europe through Popular Music" nennt er sein Projekt, ein gleichnamiges Buch ist geplant. Sein Ziel: die jüngere Geschichte Europas anhand des Song Contest nachzuzeichnen und zu verstehen. Er sucht dafür in den historischen Archiven der EU in Florenz und den Archiven der European Broadcasting Union in Genf, er macht Interviews mit Journalisten, Organisatoren und Künstlern, sammelt Berichte aus Zeitungen und Magazinen. Was den Song Contest unter anderem für ihn so interessant macht? Dass er ein bisschen lächerlich ist.

"Durch und beim Eurovision Song Contest können die Leute Dinge sagen, die sie sonst in ihren Ländern nicht äußern könnten", sagt er. "Es ist wie ein Witz, der gleichzeitig viel Wahrheit enthält. Die Leute können sich dort freier äußern als in anderen internationalen Organisationen." Bei dem Spektakel zeigen sich daher politische Spannungen, Konflikte und Wünsche, die sonst mitunter verborgen bleiben.

Abgrenzung von Russland

Heuer hat es ihm, neben Conchita Wurst, besonders Polens Beitrag angetan. Britische Medien verhöhnten den polnischen Auftritt der üppigen Butterstampferinnen und Waschfrauen zwar als "Softporno, der zwei Busen zu weit ging" - Vuletic hingegen sieht die Nummer hingegen als bewusste Provokation und Parodie auf slawische Klischees. "Die Polen zeigen mit dem Song, dass sie bei weitem nicht so konservativ und verstockt sind, wie sie oft dargestellt werden. Und, vielleicht noch wichtiger, sie setzen sich dezidiert von Russland ab, das sich gerne besonders traditionell gibt."

Der Song Contest ist für Vuletic eine Gelegenheit für Staaten und Gesellschaften, zu zeigen, wie sie gern gesehen werden würden und was sie gerade politisch beschäftigt - und bei der sich zeigt, wie andere Länder sie tatsächlich sehen und welche Stimmung in Europa generell herrscht. Weltpolitik in schrillen Kostümen und schiefen Tönen sozusagen.

"Es ist wie eine Party, wo zwar viele Gäste dabei sind, aber nicht alle sind gleich cool, nicht jeder redet mit jedem", sagt Vuletic. So verdankt für Vuletic Conchita Wurst ihren Sieg zu einem Gut- teil auch der aktuellen antirussischen Stimmung in Europa. "Das Anti-Homosexuellen-Gesetz in Russland hat Conchita geholfen, und sie hat sicher auch von der Ukraine-Krise profitiert", sagt er.

Eine von Vuletics Thesen: Besonders oft gewinnen Länder den Bewerb, die vor größeren politischen Umwälzungen stehen. Serbien gewann 2007, kurz bevor das Kosovo ein unabhängiger Staat wurde. Die Ukraine siegte 2004, vor der Orangen Revolution. Estland und Lettland sicherten sich den Bewerb 2001 und 2002 vor der EU-Osterweiterung. Und Jugoslawien holte den Sieg 1989, wenige Monate bevor der Eiserne Vorhang fiel. Es war damals das einzige Land aus Osteuropa, das an dem Bewerb teilnahm.

"Ich denke, dass Länder, in denen sich gerade politisch sehr viel tut, sich mehr anstrengen, den Bewerb zu gewinnen", sagt Vuletic. "Den Song Contest auszutragen ist eine perfekte Möglichkeit für sie, sich der Welt mit neuer Identität zu präsentieren." Das gelte vor allem für Staaten, die niemals eine Chance hätten, ein Großereignis wie die Olympischen Spiele oder eine Fußball-WM auszutragen, weil sie zu klein und diese Events zu teuer sind. Der Song Contest ist vergleichsweise günstig und wurde vergangenes Jahr dennoch von 170 Millionen Menschen gesehen.

Auch Österreichs Geschichte beim dem Bewerb ist laut Vuletic sehr politisch geprägt - auch wenn sie mangels Erfolgen nur selten wahrgenommen wird. 1968 etwa trat der tschechoslowakische Sänger Karel Gott für Österreich bei dem Bewerb an - ein klares Zeichen der Solidarität mit dem Prager Frühling, der damals die kommunistische Tschechoslowakei bewegte. 1986, kurz bevor Kurt Waldheim Präsident wurde, sandte das Land Timna Brauer, eine österreichisch-israelische Sängerin. Und 2000, im Jahr des Amtsantritts der schwarz-blauen Regierung und der EU-Sanktionen, trat mit den Rounder Girls eine Gruppe an, der zwei dunkelhäutige Sängerinnen angehörten.

Conchita Wurst steht in einer bereits längeren Tradition von Siegen homo- und transsexueller Künstler. 1998 etwa holte die Transsexuelle Dana International für Israel den Sieg: "Bis dahin wurde zumindest offiziell nicht ausgesprochen, wie wichtig der Song Contest für die homo- und transsexuelle Community ist", sagt Vuletic, "die Veranstalter verkauften den Bewerb als Ereignis für die Familie." Seither hat er zumindest viel für die Sichtbarkeit dieser Gruppen getan. 2007 gewann Marija Serifovic den Bewerb für Serbien. Die Künstlerin ist bisexuell und hat Roma-Wurzeln, um die Rechte beider Gruppen ist es in Serbien nicht unbedingt gut bestellt. Und als der Song Contest 2012 in Aserbaidschan ausgetragen wurde, wurde in Baku erstmals und temporär ein Underground-Schwulenclub eröffnet.

Ein Tor zur Welt

Vuletic ist selbst seit vielen Jahren stets live beim Song Contest dabei und ein Fan, seit er ein Teenager war. Er wuchs in Perth an der australischen Westküste auf, in seinen Worten eine der "abgeschiedensten Städte der Welt". Der Song Contest, der von Australiens internationalem Sender SBS übertragen wird, war für ihn dort ein Tor in die große weite Welt. Gemeinsam mit anderen europäischen Migranten organisierte er später an der Australian National University Song-Contest-Partys.

Dass Conchitas Sieg ein Vorbote größerer Umwälzungen in Österreich ist, glaubt Vuletic nicht - die Situation von Schwulen und Lesben im Land könnte sich aber durchaus verbessern. "Österreich hat dank Conchita jedenfalls international ein besseres Image bekommen", meint er. Obwohl es im Vergleich zu einigen europäischen Ländern, vor allem im Norden, in Fragen der Gleichstellung noch deutlich hinterherhinke. (Tobias Müller, DER STANDARD, 21.5.2014)