Wohin wählen wir? Demnächst wird, zwar jeweils national organisiert, eine transnationale Versammlung gewählt. Sie nennt sich stolz Europäisches Parlament, obwohl ein richtiges Parlament als Gegenüber eine Regierung hat, die es einsetzt, kontrolliert und notfalls zum Teufel schickt - was aber hier wegfällt. Wohin also gehen die Stimmen der Wähler und der Nichtwähler?

Für die künftigen Lebensnotwendigkeiten, globale Regimes für Währung, Handel, Sozial- und Umweltstandards, Abrüstung, Unterwerfung der Finanzindustrie ... - nirgends ein Akteur namens der Europäer. Ein fatales Zusammentreffen: Die mehrheitsfähige Geringschätzung und Verachtung der EU-Einrichtungen fällt zusammen mit einem realen Abstieg Europas.

Daher die Frage: Was ist der geeignete Handlungsraum, ein Verfassungsraum im Maßstab der global bestimmenden Mächte? Diese Frage verkannt zu haben ist das Versagen der kleinstaatlich sozialisierten Eliten.

Sind Frauen und Männer unter uns, die das jetzige Politisieren satthaben und jenseits der abgezäunten Spielwiesen Politik machen? Kein Zweifel, neuestens rührt sich vieles, graswurzelartig bunt, mit rudimentären Gemeinsamkeiten. Aus der Zivilgesellschaft kommen die inhaltlichen Anstöße und die Energie zu Veränderungen. Das ist gut, aber gegenüber den global verankerten Mächten ungenügend. Globale Weichenstellungen brauchen andere Entscheidungsorte, andere Prozesse der Meinungsbildung und des Streits - sie brauchen eine transnationale Verfassung.

Die gängige Kritik an der Europäischen Union und an Europapolitik greift zu kurz. Sie beißt sich fest an der Unzahl bürokratischer, oft schädlicher oder lächerlicher, inhaltlich überwiegend von Lobbys vorgegebener Verwaltungs- und Gesetzesakte.

Die Nationen und Staaten Europas sind als Stabilisierung historischer Zufälle entstanden, umgedeutet zu großen Entwürfen (Willensnationen) oder zum Vollzug natürlicher Gegebenheiten (Blut-und-Boden-Nationen). Beide Deutungen verlieren zusehends ihre vereinigende Kraft. Europa als Staatsgebilde neuen Typs braucht keine "Nation Europa" in der Art früherer Jahrhunderte. Der in gemeinsamem Handeln hervortretende Wille, Antwort zu geben auf die globalen Machtverschiebungen, kann die neue, transnationale Staatlichkeit hervorbringen.

Kleinstaatliche Demokratie (ohne oder mit EU-Anhängsel) ist längst zur Fassade geworden. (Siehe dazu Jürgen Habermas in Blätter für deutsche und internationale Politik 5/13 und 3/14). Habermas befürwortet jetzt eine "Politische Union" mit "Vorrang (...) der Gemeinschaftsmethode". Doch seinem Denken fehlt die Konsequenz. Habermas verkennt die akut notwendige reaktionsschnelle Einheitlichkeit staatlichen Handelns, er polemisiert gegen das Konzept Bundesstaat und sieht das künftige Europa als "nach wie vor in Nationalstaaten verankerte supranationale Demokratie" - ein Widerspruch in sich selber.)

Beklagt wird allenthalben fehlende Kontrolle, Transparenz, Mitsprache. Aber das ist nur die Hälfte des Elends der Demokratie. Kontrolle nutzt nur, wenn es Instanzen gibt, die handlungsfähig sind und die, eben weil folgenschwer gehandelt wird, beides brauchen: Anstoß und Kontrolle. Wo nicht im Nahverhältnis Aug-in-Aug beraten und beschlossen wird, gilt: ohne Regierung kein demokratischer Prozess.

Europäische Öffentlichkeit

Was in Europas Staatlichkeit am dringendsten fehlt, ist eine gemeinschaftsweite Öffentlichkeit, ein Parlament mit voller Zuständigkeit, und vor allem fehlt es am Projekt "Regierung". Erst eine föderale, in den globalen Weichenstellungen einheitlich handelnde Regierung erzeugt den Ernstfall, an dem der demokratische Prozess sich transnational entzündet.

"Morgen" also ein transnationaler politischer Prozess, die Gründungsversammlung der Völker Europas als Höhepunkt. Die Verfassung des Bundesstaats Europa, mit gemeinsamen (nicht national separierten) Wahlen, gemeinsam gewähltem Parlament und gemeinsamer Regierung. Das alles, um die längst überfälligen Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, wie Transaktionssteuer, keine Lizenzen für Transaktionen mit Steuerverhinderern, Schuldenverringerung zulasten der Finanzindustrie und anderes auf der Liste der Versäumnisse.

Darin als handlungsfähig bewährt und auf Augenhöhe mit den global Mächtigen, kann die europäische Bundesregierung die großen Weichenstellungen angehen: für globale Standards in Produktion, Handel und sozialem Ausgleich.

Noch ist nicht "morgen". Aber die kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament können zum Anlass werden für einen doppelten Aufbruch. Erstens für einen nüchternen Blick auf die real existierende Europäische Union: weder beschönigen noch verteufeln. Zweitens für eine klare Zielsetzung: Die Zukunft ist transnational, sie ist zu erfinden durch die EU hindurch jenseits der EU. Diesmal verfehlen die Wahlen das Ziel, es werden eben nicht Regierung und ein Parlament als Gegenüber der Regierung gewählt. Das aber sollen die übernächsten Wahlen bringen. (Erich Kitzmüller, DER STANDARD, 21.5.2014)