In West Hollywood, auf der Melrose Avenue, befindet sich Decades. Mit ihren großen, weiten Räumen, in denen vereinzelt weiße Kleiderpuppen mit außergewöhnlichen Kleidungsstücken stehen, mutet die Boutique wie eine Galerie an. Hier nahm der Vintage-Boom seinen Ausgang. Cameron Silver, der Besitzer der Boutique, erscheint hinter einer Spiegeltüre. Er ist groß und trägt einen schwarzen Samtanzug und schwarze Lackschuhe mit Goldkettchen. Das "Time"-Magazin nominierte ihn zu einem der 25 einflussreichsten Namen und Gesichter der Mode. Seine Kunden sind nicht weniger einflussreich. Sie heißen: Nicole Kidman, Julia Roberts, Rihanna und Lady Gaga - aber auch Brad Pitt.
STANDARD: Ab wann gilt ein Kleidungsstück als Vintage?
Silver: Es sollte mindestens 15 Jahre alt sein, und die Qualität muss 1A sein.
STANDARD: Heute gibt es einen regelrechten Hype um Vintage-Kleider. Das war nicht immer so, oder?
Silver: Als in den späten 1990er-Jahren Prominente wie Dita Von Teese, Nicole Kidman oder Daphne Guinness anfingen, Vintage-Kleidung zu tragen, wurde allmählich klar, dass man darin nicht armselig aussah, sondern ganz im Gegenteil: chic, höchst elegant und betucht.
STANDARD: Als Julia Roberts zu den Oscars 2001 ein Vintage-Kleid von Valentino trug, griffen das Phänomen auch die Medien auf.
Silver: Genau!
STANDARD: Wer wurde von Ihnen eingekleidet?
Silver: Nicole Kidman. Bei der Premiere von Moulin Rouge in New York trug sie 2001 ein bodenlanges weißes Fransenkleid von Azzaro, einem Designer, der längst in Vergessenheit geraten war. Am nächsten Tag war sie mit diesem Kleid auf allen Titelblättern zu sehen. Danach wurde die Designerin Vanessa Seward zur Kreativdirektorin des Modehauses ausgewählt, und ich arbeitete als Berater. Gemeinsam bauten wir die Marke wieder auf.
STANDARD: Welche Stücke sind heute schwer zu finden?
Silver: Kleider aus den 1920er-, den 1930er- und 1940er-Jahren. Sie werden wie Kunstwerke gehandelt.
STANDARD: Auch Designer stöbern gern auf Flohmärkten nach interessant geschnittenen Kleidern oder nach besonderen Stoffen. Kommen sie auch zu Ihnen?
Silver: Vor zehn Jahren gab es in der Modebranche noch viel Geld für diese Dinge. Designer und Stylisten gingen in meinem Geschäft ein und aus.
STANDARD: Wer sind heute Ihre Kunden?
Silver: Das geht quer durch den Gemüsegarten. Gerade heute war zum Beispiel das Model Chanel Iman hier. Sie suchte Kleider aus den 1990er-Jahren.
STANDARD: Welche Designer der 1990er-Jahre liegen im Trend?
Silver: Versace aus dieser Zeit ist sehr gefragt, auch bestimmte Stücke von Helmut Lang, Calvin Klein und von Dolce & Gabbana. Vor kurzem fragte mich eine Freundin, ob sie ein Couture-Kleid von Dolce & Gabbana kaufen solle. Da fällt mir die Antwort schwer, da Couture so maßlos teuer geworden ist. Das Kleid hätte 50.000 Euro gekostet. Couture war immer schon teuer, aber nie derartig teuer!
STANDARD: Auf welchem Preisniveau bewegen sich Ihre Stücke?
Silver: Nehmen wir dieses Abendkleid hier (zeigt auf ein weißes Seidenkleid, das aufwändig mit schwarzen Perlen bestickt ist). Es stammt aus der letzten Haute-Couture-Kollektion, die Alexander McQueen für Givenchy kreiert hat. Es ist eine Rarität. Und ja, dieses Kleid ist teuer. Es kostet 30.000 Dollar. Aber es ist einzigartig, von einem legendären Designer und ein wahres Sammlerstück. Normalerweise liegt unser Durchschnittspreis zwischen 800 und 5000 Dollar.
STANDARD: Zum Life Ball werden Sie nach Wien kommen und Teil der Style Contest Jury sein. Ist das Ihr erster Besuch in Wien?
Silver: Ja, und ich kann es kaum erwarten und hoffe natürlich, auch hier ein paar erlesene Kleidungsstücke zu finden. In Los Angeles besitze und bewohne ich ein Haus des Wiener Architekten Rudolph Schindler. Ich kaufte es vor vielen Jahren, als die Häuser der klassischen Moderne in Los Angeles noch nicht geschätzt wurden. Es wurde 1930 erbaut und war halb verfallen, als ich es kaufte. Acht Jahre dauerte die Restaurierung. Heute ist es ein Wahrzeichen und steht unter Denkmalschutz. Mit guter Architektur und gutem Design ist es wie mit gutem Wein: Sie werden mit den Jahren immer besser.
STANDARD: Sind Kleider schon immer Ihre Leidenschaft gewesen?
Silver: Meine wahre Leidenschaft war für lange Zeit das Theater. Ich studierte Theaterwissenschaft und tourte vier Jahre lang mit den verschiedensten deutschen Kabarettnummern und Liedern durch ganz Amerika. Ich nahm sogar eine Platte, Berlin to Babylon, auf. Bekannt wurde ich damit leider nicht.
STANDARD: Bekannt wurden Sie durch Ihre phänomenale Vintage-Kollektion. Wie kamen Sie dazu?
Silver: Als Kabarettist reiste ich die meiste Zeit nur mit einem Pianisten. Oft blieben wir für zwei Wochen in derselben Stadt. Und wie lernt man eine Stadt am besten kennen? Indem man Secondhandgeschäfte und Flohmärkte durchstöbert. Ich hatte den ganzen Tag über Zeit und war auf der Suche nach verschiedenen Bühnenoutfits für mich selbst. Dabei stieß ich oft auf unglaubliche Designerkleider für Frauen. Da musste ich zuschlagen! Meine Kollektion wuchs und wuchs, und als ich eine ganze Serie von Kabuki-Kleidern von dem in Wien geborenen Designer Rudi Gernreich fand, beschloss ich, ein Geschäft aufzumachen. Das war 1997.
STANDARD: Das Showbusiness hängten Sie an den Nagel?
Silver: It's all show business, baby! Als Sänger war ich ein kleiner Geschäftsmann, jetzt bin ich als Verkäufer ein kleiner Geschäftsmann. Bei Kleidern geht es genauso wie auf der Bühne um die Kunst des Verführens. Frauen kommen nicht in mein Geschäft, weil sie wirklich etwas brauchen. Sie kommen zu mir, weil sie etwas Schönes sehen möchten, etwas, das sie begeistert.
STANDARD: Wo in den USA fanden Sie die besten Designerstücke?
Silver: Ich fand sie überall: in Seattle, Orlando, Chicago, Minneapolis. Mitte der 1990er-Jahre gab es kein "Vintage". Ich fand diese Kleidungsstücke in schmuddeligen sogenannten Thrift und Second Hand Stores.
STANDARD: Sie fanden Haute-Couture-Kleider von europäischen Designern in Caritas-Shops?
Silver: Da diese Kleider aus der Mode gekommen waren, hielt man sie für wertlos. Es waren alte, getragene Kleider, und man gab sie daher einfach weg. Nicht nur fand ich unglaubliche Schätze, ich lernte auch, wie chic die Frauen in diesen Städten einmal waren und zu welcher Zeit was gekauft und was getragen wurde.
STANDARD: Wo finden Sie heute noch preiswerte Vintage-Couture oder Prêt-à-porter-Kleidung?
Silver: Es ist schwierig geworden. Das meiste finde ich heute auf Auktionen und bei privaten Verkäufern. Dafür reise ich durch die ganze Welt. Heute werde ich angerufen, und Frauen bieten mir an, ihre Kleiderschränke zu durchforsten. Ich bin sehr wählerisch und weiß genau, was ich suche. Die Kleider müssen in tadellosem Zustand sein. Givenchy, Chanel und Balenciaga sind Klassiker, die sehr begehrt sind, ebenso perfekte Taschen von Hermès und Chanel.
Vieles können Sie hier in meinem Geschäft sehen. Einmal fand ich eine ganze Schmuckkollektion von Paco Rabanne. Vor kurzem rief mich eine meiner Kundinnen an. Sie ist 45 Jahre alt und kommt aus einer wohlhabenden Familie. Viele Designerkleider, die sie kaufte, als sie zwanzig war, trägt sie nicht mehr. Sie verkaufte sie an mich. Es ist ein sehr intimer, emotionaler Akt, wenn eine Frau ihren Kleiderkasten öffnet. Von manchen Kleidungsstücken wollen sich Frauen nie trennen.
STANDARD: Wohl von ihren Hochzeitskleidern?
Silver: Die werden sie manchmal gerne los! (lacht) Von Kleidungsstücken, die mit schönen Erinnerungen und guten Gefühlen in Verbindung gebracht werden, trennen sie sich schwerer. (Cordula Reyer, Rondo, DER STANDARD, 23.5.2014)