Der Wissenschafter Viktor Mayer-Schönberger beschäftigt sich mit Erinnern und Vergessen im digitalen Zeitalter

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Es sei im Interesse Googles, möglichst wenig Anträge positiv zu bescheiden, so der Oxford-Professor

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Das überraschendende Urteil des Europäischen Gerichtshofs, Google müsse Links zu sensiblen Informationen löschen, sorgt weiterhin für hitzige Debatten zwischen Datenschützern und Hacktivisten. Der Oxford-Professor und frühere Software-Entwickler Viktor Mayer-Schönberger plädiert schon länger für ein "Recht auf Vergessen". Im Gespräch mit Fabian Schmid analysiert er den EuGH-Entscheid.

STANDARD: Sie warnen seit Jahren vor den negativen Auswirkungen der digitalen Speicherungsmöglichkeiten. Ich nehme daher an, dass Sie die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs begrüßen?

Mayer-Schönberger: Ein derartiges Urteil steht mir nicht zu. Aber ich freue mich, dass wir nun über die Frage des digitalen Gedächtnisses und der Wichtigkeit des Vergessens sprechen.

STANDARD: Wie kann die Entscheidung in die Praxis umgesetzt werden? Google ist nicht "verpflichtet“, möglichst viele Informationen wiederzugeben - besteht nicht die Gefahr, dass nahezu jeder Antrag positiv beschieden wird und so eine Vielzahl an potenziell wichtigen Informationen verloren geht?

Mayer-Schönberger: Suchmaschinen benötigen das Vertrauen der NutzerInnen in die Ergebnisse, die sie liefern. Wenn die NutzerInnen verunsichert sind und davon ausgehen, dass bei Google die Suchergebnisse sehr unvollständig sind, verliert Google Vertrauen, und das untergräbt Googles Geschäftsmodell.

Es ist also in Googles Interesse die Löschungen gering zu halten. Zum Vergleich: jedes Monat löscht Google heute schon Millionen von Links, die auf Webseiten mit (angeblichen) Urheberrechtsverletzungen verweisen. Im Vergleich dazu sind selbst hunderte Löschungsbegehren nach dem Datenschutzrecht nicht einmal ein Rundungsfehler.

STANDARD: Ihr Buch "Delete: Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten“ wurde 2009 veröffentlicht, also lange vor der den NSA-Enthüllungen durch Edward Snowden. Können Sie kurz darauf eingehen, welche Implikationen die Massenüberwachung der NSA für ihre Thesen hat?

Mayer-Schönberger: Ich denke, dass die NSA-Enthüllungen die Eigenschaft des Internets nicht zu vergessen erneut unter Beweis gestellt hat; und dass so im Eindruck einer potentiellen umfassenden Überwachung die Menschen Selbstzensur üben – genau das, was ich als digitales Panopticon im Buch beschrieben habe.

STANDARD: Sie weisen wiederholt auf Meinungsumfragen hin, denen zufolge sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für das Löschen von persönlichen Informationen und Fotos im Internet ausspricht. Gleichzeitig werden Datenschutzerklärungen oft nicht gelesen, steigen die Facebook-Nutzerzahlen noch immer. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Mayer-Schönberger: Das ist kein Widerspruch – die Menschen verhalten sich so, wie es die Möglichkeiten zulassen. Wenn man nur auf OK klicken kann, dann bringt es wenig sich, durch Seiten von juristischen Datenschutzerklärungen zu arbeiten. Aber wir sehen auch: Seit Snapchat (und andere Apps wie Frankly) verfügbar sind, wählen jede Woche dutzende Millionen von (oft jungen) Menschen Snapchat als soziale Medien-Plattform, und nicht mehr Facebook.

Facebook kann im Wesentlichen nur mehr in neuen Märkten neue NutzerInnnen gewinnen, und es zählt ja auch nicht die absolute Zahl an Nutzern, sondern wie aktiv diese sind. Wenn die wichtigen Infos auf Snapchat getauscht werden, und auf Facebook nur die saubere "Botschaft des Monats" steht, dann erodiert das Geschäftsmodell von Facebook.

STANDARD: Sie schlagen vor, dass Dokumente wie Texte oder Fotografien ein digitales "Ablaufdatum“ erhalten. Könnten Sie kurz erklären, welche Idee dahintersteckt?

Mayer-Schönberger: Die Idee ist einfach: durch die gesamte Menschheitsgeschichte war Vergessen immer relativ einfach und Erinnern schwierig für uns Menschen. Im digitalen Zeitalter hat sich dies gedreht – aber damit kommen wir Menschen schlecht zu recht.

Anstatt zu hoffen, dass wir unser Gehirn sozusagen “upgraden” könnten, sollten wir unsere digitalen Werkzeuge verbessern, und es leichter machen mit ihrer Hilfe auch Daten wieder zu vergessen. Snapchats Moglichkeit, dass sich Bilder nach ein paar Sekunden selbst löschen ist genau diese Art von Ablaufdatum, die ich vorgeschlagen habe.

STANDARD: Zurzeit stehen viele negativen Auswirkungen der Digitalisierung unserer Kommunikation im Fokus der Öffentlichkeit: Vorratsdatenspeicherung, Überwachung, fehlender Datenschutz. Verliert man darob nicht aus den Augen, welche unglaublichen Chancen sich aus der globalen Vernetzung ergeben?

Mayer-Schönberger Ich hoffe nicht. Denn es geht nicht um die Abwendung von diesen mächtigen und sinnvollen digitalen Werkzeugen, sondern um die aktive Gestaltung und den sinnvollen Einsatz. (fsc, derStandard.at, 21.5.2014)