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Prag nach der Sowjetinvasion am 21. August 1968.

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Zwei Wochen später flüchtete Milan Horácek nach Österreich.

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STANDARD: In Westeuropa wurde 1968 gegen das kapitalistische Establishment protestiert; im selben Jahr flüchteten Sie vor dem kommunistischen Establishment in der Tschechoslowakei. Wie kam das?

Horácek: Ich galt als politisch unzuverlässig. Nach meiner Ausbildung zum Elektromonteur wurde ich nicht zum Dienst mit der Waffe eingezogen, sondern in eine Arbeitsbrigade im Straßenbau. Ein Freund von mir wurde am Eisernen Vorhang als Grenzsoldat eingesetzt. Dort hat auch er festgestellt, dass wir in einem großen Gefängnis lebten. Also hat er sich freiwillig zum Spurentreten gemeldet und gelernt, wie man die Grenze überwinden kann. Ungefähr 14 Tage nach der Okkupation durch die Warschauer-Pakt-Staaten im August 1968 sind wir gemeinsam über die Grenze nach Österreich geflüchtet und dann nach Deutschland weitergefahren, wo meine Mutter lebte.

STANDARD: Wo liegen die Anfänge Ihres politischen Engagements?

Horácek: Ich habe in Frankfurt als Elektromonteur gearbeitet und war bei der IG Metall engagiert. Außerdem war ich Geschäftsführer im Verein Cesty 68 (Wege 68), in dem sich Exiltschechen trafen. In dieser Zeit knüpfte ich auch Kontakte zu den Intellektuellen des Prager Frühlings. Einige von ihnen hatten bereits das Konzentrationslager überlebt und wurden in den 1950er-Jahren abermals eingesperrt, diesmal von den Kommunisten.

STANDARD: Sie waren auch mit Rudi Dutschke eng befreundet, einem der Wortführer der linken Studentenbewegung in Westdeutschland. War diese Entwicklung für einen Flüchtling aus einem kommunistischen Land ungewöhnlich?

Horácek: Ich bin da organisch hineingewachsen. Zu den Kommunisten hatte ich aber immer eine starke Gegnerschaft. Den Klügeren war klar, dass man soziale Bewegungen wie die Friedensbewegung, die Anti-Atom-Bewegung oder die Frauenbewegung miteinbeziehen muss.

STANDARD: Ahnten Sie damals, dass die Grünen einmal eine etablierte Partei sein würden?

Horácek: Wir mussten eine Partei mit allem Drum und Dran sein, wenn wir den anderen Stimmen wegnehmen wollten. Nur das zählte. Zunächst gab es uns nur auf lokaler Ebene. 1979 traten wir dann bei der ersten Wahl zum Europäischen Parlament an. Ich habe zusammen mit Joseph Beuys auf dem vierten Listenplatz kandidiert. 1981 wurde ich in die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung gewählt. Bei der Bundestagswahl zwei Jahre später habe ich dann mit Joschka Fischer auf der hessischen Landesliste kandidiert. Die Partei hat die Fünfprozenthürde genommen, und so kam ich 1983 in den Bundestag.

STANDARD: Im Herbst 1989 fiel die Berliner Mauer, in Prag stürzte das KP-Regime. Was bedeutete dies für Ihr politisches Umfeld?

Horácek: Bei den Bundestagswahlen 1990 führten die Grünen einen guten Wahlkampf in Umweltfragen - aber nicht zur deutschen Wiedervereinigung. Sie scheiterten an der Fünfprozenthürde. Es wurde noch nicht ausreichend verstanden, dass die Wiedervereinigung kein reaktionärer Vorgang war, sondern eine Notwendigkeit. Wenn man die Teilung Europas überwinden wollte, dann musste man die Teilung Deutschlands überwinden.

STANDARD: Von 2004 bis 2009 waren Sie als gebürtiger Tscheche Abgeordneter der deutschen Grünen im Europaparlament. Sahen Sie sich da in einer Doppelrolle?

Horácek: In unserer Fraktion war ich der einzige Abgeordnete aus Mittelosteuropa. Ich hatte natürlich viele Kontakte in die Slowakei, nach Ungarn oder Polen. Die Leute dort waren froh, dass sie einen Ansprechpartner hatten.

STANDARD: Die Tschechen gelten häufig als europaskeptisch. Bei der Parlamentswahl 2013 blieben die EU-skeptischen Parteien aber erfolglos. Ein Widerspruch?

Horácek: Die EU wird in Tschechien oft als Melkkuh gesehen. Viele begreifen Europa nicht als Solidargemeinschaft. In den Jahrzehnten des Kommunismus lernten sie, nur für sich und die Familie zu sorgen, und sehen nicht, dass man ein funktionierendes Gemeinwesen braucht, auch zwischen Staaten. Gleichzeitig aber wissen die meisten Tschechen, dass Europa mehr ist als eine Wirtschaftsgemeinschaft: eine Kulturgemeinschaft mit einem Erbe, das mehr ist als die Hinterlassenschaft zweier Weltkriege. (Gerald Schubert, DER STANDARD, 20.5.2014)