"Der Mönch der Tang-Dynastie" im Spinnennetz der Bühnenkunst. Filme von Regisseur Tsai Ming-liang gibt es derweil noch bis 23. Mai im Wiener Künstlerhaus-Kino zu sehen.


Foto: Wiener Festwochen

Wien - Ein asiatischer Wanderer im scharlachroten Kostüm liegt flach ausgestreckt auf einem rechteckigen Bogen Papier. Dessen Fläche beträgt geschätzte 30 Quadratmeter. Der Held der Produktion Der Mönch aus der Tang-Dynastie scheint zu schlummern. Während sich rund um ihn ein Zeichenkünstler mit einem Kohlestift zu schaffen macht, steigen Schnarchlaute gleichsam gedämpft an die hohe Decke des Wiener Semperdepots empor.

Letzteres nennt sich dieser Tage "Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien". Die Wiener Festwochen nutzen dieses architektonische Juwel noch bis heute Abend als szenisches Meditationszentrum. Die Produktion des taiwanesischen Filmemachers Tsai Ming-liang ist das behutsamste Störmanöver, das sich ein Theaterfestival wie das Wiener nur wünschen kann. Tsai erzählt die Geschichte Xuanzangs (hier gespielt von Lee Kang-sheng), der vor 1400 Jahren auf Schusters Rappen von China nach Indien wanderte. Das zutreffende Bild für die spirituelle Erweckungsreise ist das der Wüstendurchquerung.

Xuanzang wird der buddhistischen Weisheit teilhaftig. Er lernt, die unendlichen Weiten der chinesischen Ebene als Durchgangsstadium zu begreifen. Raum und Zeit gehen miteinander eine untrennbare Verbindung ein. Am Ende der Reise ins Ich wartet die Einsicht in die Notwendigkeit von Leere und Vollendung. (Obendrein hat der historische Xuanzang das Sutra der höchsten Weisheit ins Chinesische übersetzt.) Tsai Ming-liangs Theaterproduktion ist der flauschig-weiche Fehdehandschuh ins Gesicht aller derjenigen, denen es auf der Bühne gar nicht wild genug zugehen kann. Die Künste werden von diesem Minimalisten des Ausdrucks behutsam zum Stillstand gebracht.

Der Zuschauer sieht sich aufgefordert, tränenden Auges auf das Papier zu seinen Füßen zu starren. Und siehe da, unter der reibenden Hand des Malers Kao Jun-honn - er arbeitet auf Knien - entstehen nacheinander 20 Riesenspinnen. Jede von ihnen erhält zu einer ihrer Schwestern einen Verbindungsfaden. Schließlich bedeckt der Künstler den ganzen Bogen mit gleichmäßigen Schraffuren. Ein Baum mit Wurzelwerk und Zweigen entsteht. Eine Mondsichel prangt am Boden, drei Blüten entfalten ihre Blätter.

Als sich der Mönch schließlich erhebt und das Geviert verlässt, hinterlässt er eine blendend weiße Aussparung. Die Sensationen dieses schlichtweg genialen Theaterabends sind von mikroskopischer Größe. Jede kleinste Kleinigkeit macht hier den Unterschied ums Ganze. Der Mönch kehrt wieder. Er siebt Wasser, setzt seiner Kopfbehaarung mit dem Messer zu. Er isst eine Frucht mit einer Behutsamkeit und Schlichtheit, als wollte er durch den Akt des Verzehrs der Schöpfung zu ihrem Recht verhelfen.

Die daran anschließende Reise nach Indien ist ein größeres Unterfangen als jedes Königsdrama. Der Maler und zwei Helferinnen lassen auf einem weiteren Papierbogen ein Gewirr vertikaler Kohlestriche entstehen. Der Mönch steht auf dem Papier vom Anfang, nur dass dieses inzwischen zu einem Packen eingeschlagen ist. Der heilige Mann erhebt die Füße zu Schritten und veranstaltet eine Art Zeitlupentanz. Tsai Ming-liang und sein Team erzeugen eine Ekstase der Stille, in der das Lied Sentimental Journey erklingt.

Das Papier bauscht sich, es entsteht der flüchtige Eindruck des Himalayas, ehe der Mönch eine flache Scheibe Brot ver- speist. Diejenigen Teile des Publikums, die noch anwesend sind, schießen auch keine Handybilder mehr. Allzu lauter Applaus könnte die Harmonie trüben. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 19.5.2014)