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Erdogan in Soma.

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Sein Berater Yusuf Yerkel trat auf einen festgenommenen, auf dem Boden liegenden  Demonstranten ein.

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Was vermelden die Medien? Eine, wie es scheint, verkehrte Welt. Im bekanntermaßen antidemokratischen Nordkorea entschuldigt sich die Regierung für den Einsturz eines 23-geschoßigen Hochhauses in Pjöngjang. Hunderte von Menschen dürften zu Tode gekommen sein. In der demokratischen Republik Türkei erklärt der Ministerpräsident Erdogan anlässlich des Minenunglücks in Soma lapidar: "Solche Unfälle passieren ständig.“ Nach jüngstem Wissensstand erstickten 301 Männer jämmerlich in der Mine. Weltweit war dieses Grubenunglück das schwerste seit knapp 40 Jahren. Die türkischen Grubenarbeiter erhielten einen Maulkorberlass, über die Stadt wurde ein Demonstrationsverbot verhängt, Polizisten kontrollieren die Zufahrtsstraßen.

"Unvorstellbares Unglück“

In Nordkorea räumt die Regierung laut der amtlichen Nachrichtenagentur KCNA ein Fehlverhalten der verantwortlichen Behörde und deren Verantwortung für dieses "unvorstellbare Unglück“ ein. Die Tage des verantwortlichen Ministers dürften gezählt sein, zumindest als Regierungsmitglied. In der Türkei entlastet Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den seiner Partei angeblich nahestehenden Eigner, tut das Unglück schlicht als "normalen“  Arbeitsunfall ab und beruft sich dabei auf Grubenunglücke im England des 19. Jahrhunderts.

Im 19. Jahrhundert war es vielleicht noch möglich, Detail- und wahrheitsgetreue Berichterstattung zu unterdrücken. Heute geht das nicht mehr. Die ganze Welt nahm an Erdogans Besuch in der Bergarbeiterstadt Soma teil. Das Bad in der Masse geriet zu einem Debakel. Buh-Chöre empfingen den Ministerpräsidenten, der davon träumt, im Sommer zum Staatspräsidenten, zum neuen "Vater der Türken“ gewählt zu werden. Passanten traten auf die Staatskarosse ein, Sicherheitsbeamte brachten den Ministerpräsident mühsam in einem Supermarkt namens "Grüne Orange“ in Sicherheit.

Ohrfeige

Erdogans Berater Yusuf Yerkel trat auf einen festgenommenen, auf dem Boden liegenden  Demonstranten ein. Der Ministerpräsident selbst soll angeblich nicht nur einen Demonstranten, der ihn ausbuht hatte, sondern auch eine 15-jährige, die ihn für den Tod ihres verunglückten Vaters verantwortlich machte, geohrfeigt haben.

Die Hinterbliebenen werfen der Regierung vor, notwendige Sicherheitskontrollen verhindert zu haben. Erdogans AKP kontert: Seit 2009 sei das Bergwerk elfmal geprüft worden. Unbeantwortet blieb die Frage, warum lang geforderte Schutzmaßnahmen nicht umgesetzt wurden. Im internationalen Vergleich nimmt die Türkei in Sachen Arbeitsschutz einen der letzten Ränge ein. Unwidersprochen blieb bisher auch die Meldung der regierungskritischen Zeitung "Taraf“, der Inhaber der Grube, Alp Gürkan, unterstütze Erdogans Partei AKP mit großzügigen Spenden und liefere auch jene Gratiskohle, mit der die Partei ihre Anhänger belohne.

Entzauberter Regierungschef

Die über Youtube abrufbaren Videos sind zu verwackelt, um tatsächliche Handgreiflichkeiten des Ministerpräsidenten zu beweisen. Doch sie zeigen Erdogans Bedrängnis. Das Medium Internet liefert dekuvrierende Bilder eines entzauberten Regierungschefs, der sich vor dem Volkszorn in Sicherheit zu bringen versucht. Entsprechend gereizt reagieren Erdogan-Getreue auch auf kritische Berichte ausländischer Journalisten.

"Scher dich zum Teufel“, titelt am 16. Mai "Spiegel Online". Ein wörtliches Zitat aus einem Interview des Korrespondenten Hasnain Kazim mit einem Bergarbeiter in Soma. Wörtlich sagte dieser: "Ich hätte so etwas bis jetzt nicht geäußert, aber nun möchte ich Erdogan nur sagen: Scher dich zum Teufel“. Die Folge: Ein Shitstorm ergoss sich über den Journalisten. Per E-Mail, Twitter, Facebook. Laut Kazim, der sich auf türkische Journalisten beruft, habe angeblich die AKP eine Twitter-Abteilung gegründet, in der überwiegend junge Leute via soziale Netzwerken Kampagnen gegen kritische Journalisten führen. Nachdem es der Partei nicht gelungen war, die sozialen Netzwerke zu verbieten, bedient sie sich selbst dieser.

Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit haben in der Türkei einen schlechten Stand. Statt den Dialog zu suchen, schickt die Regierung auch diesmal – knapp ein Jahr nach dem Beginn der Proteste rund um den Istanbuler Gezi Park – die Polizei mit Tränengaswerfern gegen Demonstranten aus, lässt offenbar wieder willkürlich angebliche Terroristen verhaften, schützt sich vor Kritik mit Gewalt und schürt damit zusätzlich das Feuer der Empörung.

Justizreform

Nicht einmal die jüngste Haftentlassung von acht kritischen, vornehmlich kurdischen Journalistinnen und Journalisten kann zu einem medienfreundlichen Feigenblatt umgemünzt werden. Wie berichtet waren drei von diesen, darunter auch die Journalistin Füsun Erdogan, Anfang November 2013 wegen angeblicher Zugehörigkeit zu der als "terroristisch" eingestuften marxistisch-leninistischen Partei zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Nun mussten sie freigelassen werden. Der Grund: Seit der jüngsten Justizreform darf die Untersuchungshaft nicht länger als fünf Jahre dauern. Diese Zeit war großzügig überschritten worden. Füsun Erdogan zum Beispiel saß seit September 2006 hinter Gefängnisgittern. Noch immer sind 32 andere Journalistinnen und Journalisten in Haft. Die meisten wegen angeblicher Verstöße gegen das beliebig dehnbare Antiterrorgesetz.

Zwei Tage vor dem Grubenunglück in Soma berichteten die "Deutsch Türkischen Nachrichten": "Die Türkische Regierung will stärker mit ausländischen Journalisten zusammenarbeiten“. Wie heißt es doch in der Bergarbeitersprache? Glück auf. (Rubina Möhring, derStandard.at, 18.5.2014)