Als Fotos noch sorgsam zurechtgezupfte Ansichtssachen von Ewigkeitscharakter waren: Adalbert Stifter, merkbar abgemagert, in seinem vorletzten Lebensjahr.

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Es ist in seiner Radikalität ein Schulbuchmissverständnis.


Linz/Wien – Dem Betrachter von Adalbert-Stifter-Fotografien – und Stifter war ein untröstlicher Bewohner der vorletzten Jahrhundertmitte, in dem die Immobilität der politischen Umstände in der bedeutsamen Leibesfülle des Dichters sich niederschlug – fällt etwas vor der Zeit Erloschenes auf: der Ausdruck eines, dem die Sortiertheit seines eigenen, auf Maßhalten und Sanftheit gegründeten Erzählens nicht mehr ganz geheuer gewesen sein mag.

Der oberösterreichische Landeskonservator und Schulaufseher Stifter, der heuer im Oktober seinen 200. Geburtstag feiert, führt in seiner rund tausendseitigen "Erzählung" Der Nachsommer das eigene, katholisch begonnene und zusehends aus dem Ruder der in Stift Kremsmünster genossenen Erziehung laufende Leben zu einem bestmöglichen Ende. Dass dieses Ende mit einer Katastrophe zusammenfiel, gehört zu den Merkwürdigkeiten einer unabgegoltenen Existenz.

Denn Nachsommer-Held Heinrich, in dem man immerhin ein Echo auf den leibhaftigen Autor erblicken darf, führt nach einer vom Rosenzüchter Risach gewährten Ausbildung in vielfältiger und friedvoller Welteinrichtung dessen Tochter Natalie vor den Traualtar. Das alles geschieht, als ob Natalie nicht aus Fleisch, aus Blut – der Held aber auch kein glaubhaftes Erziehungsobjekt wäre. Denn gegenüber seinem mäßig drangvollen Weltbegreifen gewinnt ein Zusammenklang von Anschauungsformen die Überhand.

Allein deshalb hat man das Buch auch schon "langweilig" genannt: Der dichtende Kollege Hebbel versprach dem die Nachsommer-Lektüre zu einem glücklichen Ende bringenden Leser gar die "polnische Königskrone" zum Geschenk. Stifter aber, der aufgrund seiner zirrhotischen Beschwerden abgemagert sowie Opfer von Wahnvorstellungen geworden war, schnitt sich eines Nachts mit dem Rasiermesser die Kehle durch. Die Fama log diese beispiellose Tat zum "Versehen" um – als ob ein reifer Pensionär sich spätnachts im Bett zu einer eingehenden Gesichtsrasur entschlösse, nur um mit der Schneide abzugleiten.

Stadlers Großessay

Der Autor und Büchner- Preisträger Arnold Stadler (50), dessen bei DuMont in Köln erschienener Großessay Mein Stifter aus Anlass des Jubiläumsjahrs eine grandios unbehagliche Lektüre gewährt, überführt das Rätsel dieser Tat in ein paradoxes Arsenal aus ursprünglich lebenserhaltenden Praktiken.

Stifter, der als unmäßiger Esser sündigte, dem Lottospiel mit zum Teil verheerenden Konsequenzen oblag und die Ehe mit seiner Frau Amalie wie ein zu erduldendes Übel im Linzer Ausgedinge führte, sei eben nicht jener Beschwichtiger gewesen, als den ihn sich die Schulbuchweisheit träumen lässt. Schlimmer: Stifter habe zum schlechten Ende "mit dem Messer philosophiert". Das ist nicht nur ein Satz von Büchner'scher Wucht, sondern die frappierende Einsicht in die friedfertige Diesseitigkeit eines Denkens, das sich noch im Nachsommer die besänftigte Welt nur als hienieden gelegenen Garten denken mag.

Stifter war mit jedem Zoll kein Glaubenseiferer, noch nicht einmal ein Pantheist, sondern zimmerte sich aus Begriffen wie "Häuslichkeit" oder "Einkehr" die Sperrholzplatten eines Verschlages, der ihm von innen heraus – aus der Mitte seiner Ehe, seiner notorischen Fresssucht – eingestürzt wurde. Stadler spricht es nicht aus. Doch Stifters letale Autoaggression schleppt im Gefolge ihrer notwendigen Ausdeutung jene betrübliche Einsicht mit sich herum, dass auch ein Kopf, der die ungetrübte Harmonie des Nachsommers sich aussinnt, wider die bedrückende Materialität der als real empfundenen Verhältnisse nichts auszurichten vermag.

Dergleichen Dinge wären nun mit Begriffen wie "Restauration" wohl nicht hinlänglich erfasst. Stifter verwirklichte in seiner – schon zu Lebzeiten, also im letzten Lebensjahrzehnt verlachten oder verschwiegenen – Schreibarbeit das Ideal einer unmerklichen Umwandlung des Beschreibens in ein Korrigieren. Stadler lobt den streng auf dessen Nachsommer fokussierten Dichterkollegen für einen Satz wie den folgenden: "Weiterhin gegen Mittag war das Land und das Gebirge kaum zu erkennen, wegen des blauen Wolkenschattens und des blauen Wolkenduftes."

In Wahrheit sann Stifter, als er 1861 am Witiko feilte, auf die Herrlichkeiten häuslicher Küche: Der Schulrat gelobte, am Schreibtisch auszuharren. Dann aber "harrt meiner eine ganze Ente. Mich hungert aber jetzt schon so, dass ich glaube, ich esse zwei."

Nimmt es da noch Wunder, dass ein solcher Hunger jede bürgerliche Küchenkapazität, aber auch jedes bürgerliche Gesetzbuch übersteigt? (DER STANDARD, Printausgabe, 30.03.2005)