Ein riesiger Doughnut vibriert vor Energie in seinem Inneren - und befindet sich im Ungleichgewicht diverser Kräfte: "Gravitationskollaps II" von Leo Schatzl.

Foto: CentrumGegenwartskunst/Artner
Das Offene Kulturhaus in Linz zeigt mit "Fluchtpunkte" eine Retrospektive auf das Werk (inklusive der praktischen Erfindung "Vibrotool") von Leo Schatzl, der zuletzt in Sao Paulo mit einem VW für Furore sorgte.


Linz - Ein "Vibrotool" braucht unbedingt, wer etwas vibrieren lassen will. Egal was. Man legt oder stellt das Objekt auf das "Vibrotool", betätigt den Auslöser, und - es vibriert. Was heißt, das Objekt verliert sich ein bisschen, es wackelt sich, je nach Frequenz, mehr oder weniger unscharf. Und wer jetzt glaubt, es wäre so einfach, sich auf diese Unschärfe auch völlig einzulassen, der irrt. Der bedenkt nämlich nicht, dass sein Gehirn sich gegen diese Unschärfe zur Wehr setzt. Man könnte sagen, es agiert subversiv, es wackelt dagegen, mahnt ein, den Gegenstand so zu sehen wie immer, so, als würde er nicht vibrieren: scharf.

Noch viel ärger macht sich diese Erinnerungsautomatik bei Gesichtern bemerkbar. Um dies zu demonstrieren, hat Leo Schatzl, der auch das praktische "Vibrotool" gebaut hat, im Offenen Kulturhaus in Linz (OK) gleich ein ganzes Vibrationskino eingerichtet. Und zeigt dort Ludmilla, ein Porträt, das auf Knopfdruck ganz enorm zu Wackeln beginnt. So enorm zu wackeln, dass auch gleich der ganze Kinosaal und die Besucher mitwackeln.

Heißes Vibrationskino

Allein, das federgelagerte Porträt will nicht so recht verschwimmen. Und das liegt daran, dass wir darauf konditioniert sind, Gesichter auch im ärgsten Zustand der Verzerrung tadellos wiederzuerkennen. Im speziellen Fall ist es das Gesicht des Kosmonauten Juri Gagarin. Mindestens so muss es gerüttelt haben, als er ins All geschossen wurde.

Jenen, die von solch gewagten Unternehmen nicht zurückgekommen sind, hat Leo Schatzl sein Vibrationskino gewidmet. Vor allem der Kosmonautin Ludmilla, einer mythenumrankten Figur, die angeblich als erste Frau die Erde von so weit weg gesehen haben soll. Ob einer unglücklichen Verglühung beim Wiedereintritt in die Atmosphäre konnte sie nie davon berichten. Angeblich aber sollen ihre letzten Worte - ein Amateurfunker will sie empfangen haben - der russischen Fassung von "I'm so hot, I'm so hot; come in!" entsprechen.

Egal. Bewegung, Rotation, Vibration und sämtliche damit verbundenen Phänomene stehen im Mittelpunkt von Leo Schatzls jüngsten Versuchsanordnungen. Da rotieren Leuchtschnüre im Dunkeln und bilden dadurch eiförmige Lichträume ("Rotoobjekt"), da befindet sich ein zweimotoriges Modellflugzeug im permanenten Steigflug und bleibt doch an seiner Energieversorgungsleitung am Boden gefesselt ("Vertifly"), und da wird schließlich recht anschaulich demonstriert, was Stephen Hawkins gemeint haben könnte, als er von Universummodellen und schwarzen Löchern und der Möglichkeit eines Gravitationskollapses geschrieben hat: einen riesigen Doughnut im Ungleichgewicht diverser Kräfte.

So ein Doughnut hängt nun im OK, rotiert, als wäre er eine Galaxie, vibriert vor Energie in seinem Inneren und spürt die Schwerkraft. Man kann ihn zart berühren oder ihm auch einen kräftigen Stoß versetzen, muss aber die Verantwortung auf sich nehmen, dass es dabei jederzeit zu einem Gravitationskollaps und damit zur Geburt neuer Sterne und Galaxien kommen kann.

Leo Schatzls im Zuge der Biennale von Sao Paulo 2004 zu medialer Berühmtheit gelangter Volkswagen ist nur als Dokumentation zu sehen. Das Fahrgeschäft mit dem rotierenden Käfer auf dem Eisenmatador-Gerüst, das er mit David Moises und Severin Hoffman entwickelt hat, hätte die Dimension der Retrospektive gesprengt. Dafür aber sind Schatzls "stillere" Arbeiten ausgiebig dokumentiert: die Lichtzeichnungen und Betonskulpturen, die Antennenfotos, die Videos von frappierend simplen Handwerkstechniken in Afrika. (Der Standard, Printausgabe, 19./20. 3. 2005)