Getriebener Held und fatales Ende: John Boultings Graham-Greene-Adaption "Brighton Rock" - die britische Variante eines Film noir.

Foto: Österreichisches Filmmuseum
Neben den klassischen US-Beispielen sind etliche geistesverwandte Arbeiten zu sehen.


Wien - Film noir ist ein unpräziser, geradezu amphibischer Begriff, der viele Assoziationen wachruft. Ganze Bündel an Motiven, Topoi und stilistischen Merkmalen laufen vorm inneren Auge ab: der Detektiv, Abgesandter der Hardboiled-Krimis eines Raymond Chandler oder James M. Cain, der sich in den Wirrungen eines Falles verliert. Die Femme fatale, als ebenso starke wie dämonische Frauenfigur. Brüchige Erzählformen, Paranoia, kontrastreiche Chiaroscuro-Fotografie oder die suggestiven Voive-overs, verschlungene Rückblenden etc.

All diese Elemente sollen die Grundzüge einer Epoche des US-Kinos definieren, dessen Anfang ebenso ungewiss ist wie sein Ende. Der Film noir ist kein Genre, er widerstrebt jedem Ordnungssinn. Er ist auch mehr als Stil, der sich über ästhetische Kennzeichen fassen ließe. Eher handelt es sich um eine moderne Sensibilität, die sich über ein Moment der Krise (immer wieder neu) konstituiert: Das Kino, so künstlich es auch bleibt, wird transparent für die Widrigkeiten eines gesellschaftlichen Außen und reagiert auf soziale Umwälzungen.

Die umfassend angelegte Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum trägt dieser kulturellen Bandbreite des Film noir nun Rechnung, indem sie ihn nicht auf den kanonisierten Bereich der US-Nachkriegszeit einschränkt, sondern "noir" als internationale Chiffre versteht und Beispiele aus anderem Ländern und Zeiten miteinbezieht. Darunter finden sich noch in Deutschland produzierte Arbeiten von Robert Siodmak und Fritz Lang oder auch Filme des französischen poetischen Realismus.

Begriff der Filmkritik

Frankreich war auch das Ursprungsland für den Begriff Film noir, der von Filmkritikern formuliert wurde, um die Ankunft von mittlerweile als Klassiker geltenden Filme wie John Hustons The Maltese Falcon, Billy Wilders Double Indemnity oder Laura von Otto Preminger für ihre Fatalität und ungefilterte Gewalt, aber auch ihre antisozialen Impulse zu würdigen. Das war zugleich der Beginn eines Missverständnisses: Der Filmwissenschafter Marc Vernet wies darauf hin, dass schon diese Lektüre von einem zumindest ambivalenten Amerikabild ausging.

Henri-Georges Clouzots unter deutscher Besatzung realisierter Film Le Corbeau zeigt indes, dass die Tendenz zu schwarzen Szenarien, samt den charakteristischen Topoi, im eigenen Land wirksam war. Der Arzt einer Kleinstadt wird darin zum Objekt denunziatorischer Briefe, die allmählich den ganzen Ort in Aufruhr versetzen und den sozialen Zusammenhalt gefährden. Wie hier einstmals sinnstiftende Institutionen versagen und der Einzelne sich in einer prekären Freiheit wiederfindet, das sollte auch der amerikanischen Film noir immer wieder thematisieren.

Gerade in B-Produktionen wie Anthony Manns Raw Deal - von einem der vielen Emigranten des Film noir, John Alton, fotografiert - wird ein Blickwechsel evident, der die eskapistische Ausrichtung Hollywoods zur Depressionszeit radikal umpolt: Ein zu Unrecht verurteilter Gefangener bricht aus dem Gefängnis aus, aber die Flucht ist von einem Gangster eingefädelt, der ihn endgültig liquidieren will. Das Äußerlichwerden des Raums, die erzählerischen Peripetien und der objektive Schauspielstil sind Qualitäten, die hier geradezu exemplarisch hervortreten.

Man könnte den Film noir nur über Orte - die Diners, Bars, Nachtclubs oder Motels - auffächern, über das Aufkommen einer als problematisch empfundenen Suburbia. Oder über die Sensibilität, die er gegenüber kapitalistischen Umstrukturierungen, dem Aufkommen von Corporate America, ausdrückt: Wie in Abraham Polonskys Force of Evil, in dem zwischen Bankengeschäften und Kriminalität allenfalls nur marginale Unterschiede bestehen. Was übrigens dazu führte, dass Polonsky auf McCarthys schwarzer Liste landete.

Das Filmmuseum legt für diese vielfachen Lesarten des Film noir nun die entsprechende Fährten aus und ergänzt sie um gemeinsam mit Synema organisierte Lectures. Im April folgt die Verlängerung bis in die Gegenwart. (DER STANDARD, Printausgabe, 12./13.03.2005)