Werner Specht: "Für eine ,echte‘ Gesamtschule fehlt es in Österreich an elementaren Voraussetzungen."

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Dass die Zukunftskommission ihre Aufklärungspflicht politischen Tabus untergeordnet habe, wird nicht dadurch wahrer, dass es von Karl Heinz Gruber ("Ist die Schule eine Scheibe?", STANDARD, 28. 2.) gebetsmühlenartig wiederholt wird.

Richtig ist, dass das Schwergewicht unserer Vorschläge auf Qualitätssicherung und nicht auf Systemumbau lag. Die Gründe dafür sind relativ einfach: Seit den frühen 90er-Jahren haben eine Menge sachkundiger Menschen in Österreich - darunter zeitweise auch Karl Heinz Gruber - über Konzepte zur Verbesserung von Schulqualität nachgedacht: In mindestens drei dicken Büchern wurden diese Konzepte wissenschaftlich fundiert. Ein Weißbuch des Ministeriums selbst hat sie in eine praxisnahe Sprache gebracht. Experten- und Praktikergruppen haben Detailkonzepte erarbeitet: zur Umsetzung des Schulprogramms als pädagogisches Steuerungsinstrument; zur Unterstützung der Qualitätsentwicklung am Schulstandort (qis.at); zur Orientierung von Unterricht und Systemsteuerung an Bildungsstandards; für den Aufbau kontinuierlicher Systembeobachtung und Bildungsberichterstattung; zur Nutzung von Wissenschaft und Forschung als unterstützende Ressource.

So ist ein Fundus an Wissen entstanden, der aber nach fast 15 Jahren noch immer weit gehend brachliegt. Daher hat die Zukunftskommission zusammengetragen, worüber es unter Wohlmeinenden längst einen Grundkonsens gibt. Aus Konzepten sollten endlich Verbindlichkeiten werden: klare gesetzliche Regelungen, absichernde institutionelle Strukturen und stabilisierende Ressourcen.

Nur "Erbsenzählerei"?

Aber es gibt eben nicht nur die Wohlmeinenden, sondern auch jene, für die eine Politik der kleinen Schritte lediglich Erbsenzählerei ist. Sie rufen nach Strukturreformen, obwohl für deren Realisierung die elementaren Voraussetzungen fehlen. Auch wenn Karl Heinz Gruber es nicht glauben mag: "Die Gesamtschule" ist kein pädagogisches Programm, sondern eine institutionelle Struktur, innerhalb derer sich zwar manche Probleme unseres Bildungswesens besser lösen ließen - aber eben nur dann, wenn es dafür einen einigermaßen haltbaren Grundkonsens gibt. Andernfalls verschlingen die Kompromisse, Halbheiten, Friktionen und Konflikte in der Umsetzung alle Vorteile wieder. Dann ist die Schule wirklich eine Scheibe - platt gewalzt von den Ideologen unterschiedlichster Couleur.

Was könnte eine gemeinsame Schule für alle leisten?

  • Reduktion von sozialen Benachteiligungen: Die Entscheidung über die Bildungslaufbahnen der Kinder wird nach hinten verlagert und von Fähigkeiten, Interessen und schulischen Leistungen der Schüler und nicht von den (herkunftsbedingten) Wünschen der Eltern bestimmt.
  • Veränderung tradierter Formen des Unterrichtens: Heterogenität erfordert neues Lehren und Lernen, das sich stärker an der Förderung des einzelnen Kindes orientiert.
  • Überwindung der Vereinzelung des Lehrerdaseins. Unterschiedliche Lernvoraussetzungen erfordern Teamarbeit, Kooperation und geteilte Verantwortung für die Lehr-und Lernprozesse.

    Wenn man dies wirklich wollte, dann müsste man allerdings auf Halbherzigkeiten verzichten, die heute gerne unter dem Schlagwort "Autonomie" präsentiert werden, in Wahrheit aber oft nur Versuche sind, schmerzhaften Grundsatzentscheidungen auszuweichen. Ich nenne hier nur zwei:

    Evolution . . .

    Erstens: Eine Gesamtschule müsste wirklich eine Schule für alle Kinder sein. Nur echte Heterogenität (unter weitestmöglichem Einschluss von behinderten und beeinträchtigten Schülern) könnte diese Vorteile freisetzen. Das aber würde heißen: Verzicht auf die "Autonomie" der Schulträger, Ausleseschulen und integrative Schulen nebeneinander zu führen. Die ungünstigen Ergebnisse der deutschen Gesamtschulen haben ihre wichtigste Ursache genau darin, dass infolge der Konkurrenz zu den Gymnasien nur die Schwachen in "Gesamtschulen" integriert werden.

    Zweitens: Die Heterogenität der Schulen müsste so lange und so weit gehend wie möglich bis in die Klassen hinein erhalten bleiben. Nur heterogene Lerngruppen (und nicht bloß Schulhäuser) stimulieren neues Lehren und Lernen, fördern den Blick auf den einzelnen Schüler, erfordern die Zusammenarbeit unterschiedlicher Lehrkräfte.

    . . . statt Revolution

    Das aber hieße: Verzicht auf die "Autonomie" der Schulen, durch exzessive und starre äußere Differenzierung (Leistungsgruppen) die Homogenität wieder herzustellen; dafür konsequente innere Differenzierung und individuelle Förderung. Gesamtschulen mit weit reichenden äußeren Differenzierungssystemen können gnadenlosere Selektionsmaschinen sein als jedes gegliederte Schulsystem.

    Da nicht zu sehen ist, wie diese Voraussetzungen in der Sekundarstufe derzeit in Österreich herstellbar sind, könnten "Gesamtschulen" bestenfalls Angebotsschulen werden, denen wiederum alle so genannten "bildungsbewussten" Eltern weiträumig ausweichen würden. Unter immensem Energie- und Ressourcenaufwand würde der sprichwörtliche Berg eine Maus kreißen.

    Und die Voraussetzungen fehlen nicht einfach deswegen, weil "die Konservativen" auf ihren Elitebildungskonzepten beharren, sondern, in zumindest gleichem Maße,

  • weil sich auch "progressive" Bildungsdenker bei allen Lippenbekenntnissen schwer tun mit dem Gedanken, ihre eigenen Kinder gemeinsam mit Kindern von Sandlern, Junkies und Hilfsarbeitern unterrichten zu lassen;
  • weil die Fantasie der meisten Lehrer/innen - gleich welcher politischen Couleur - nicht für die Vorstellung ausreicht, Hochbegabte im Beisein von behinderten, demotivierten und schwächer Begabten angemessen zu fördern;
  • weil das Ausleseprinzip, wenn nicht in den Herzen, so doch in den Köpfen der allermeisten Pädagogen fest verankert ist.

    Dies, und nicht ein Ukas der Frau Bildungsministerin, war der Grund, warum die Zukunftskommission auf Wandel und nicht auf Revolution setzte. Eine gemeinsame Schule, die ihr Potenzial entfalten soll, würde gesellschaftliche Akzeptanz und äußerste Konsequenz in der Umsetzung voraussetzen. Die Gesamtschule mit der Brechstange nützt niemandem. Die Grabenkämpfe der pädagogischen Ideologien werden fast immer auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. (DER STANDARD, Printausgabe, 3.3.2005)