Foto: Buchcover
Nadja Hahn traf die Buchautorin Nadia Dabbagh

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Aisha war 28, als sie eine Tablettenüberdosis nahm. Sie war jahrelang von ihrem Bruder vergewaltigt worden und hatte schon zwei gescheiterte Ehen hinter sich. Ihr erster Mann hatte sie betrogen, der zweite geschlagen. Sie beschloss, eine israelische Soldatin mit einer Rasierklinge anzugreifen. Die Klinge war stumpf, denn Aisha wollte die Frau nicht ernsthaft verletzen. Aber der einzige Zufluchtsort aus ihrer Alltagshölle schien das Gefängnis. "Ich wurde sofort verhaftet und war ein Jahr und acht Monate im Gefängnis. Anfangs war es schwer, aber ich konnte mich ausruhen. Es war besser als draußen. Ich würde gerne wieder zurück", erzählt Aisha nach ihrem Selbstmordversuch.

Israelische Soldaten verprügelten Abid als Teenager so sehr, dass er epileptische Anfälle bekam. Die machten ihn arbeitsunfähig. Ohne Einkommen gab es keine Chance auf Heirat und Kinder. "Ein Mann ohne Arbeit, der noch dazu jung ist, Geld von seinem Bruder nimmt und kein eigenes Haus hat, kann nicht mit einer Frau leben. Das ist keine kleine Sache. Ich bin müde", sagt der 24-Jährige, nachdem er versucht hatte, durch eine Tablettenüberdosis zu sterben. Sein größter Wunsch: "Wenn sie mich nur verhaften würden und mich lebenslänglich im Gefängnis einsperrten, wie meinen Bruder. Das wäre ehrenvoller für mich, als zu Hause zu sitzen."

Geschichten wie diese erzählt Nadia Dabbagh in ihrem jüngst in London erschienenen Buch Suicide in Palestine: Narratives of Despair. Die Tochter eines palästinensischen Flüchtlings und einer Britin verbrachte zwei Jahre in Ramallah und Jenin im Rahmen ihres Medizinstudiums am University College London, um die Auswirkungen des fast 40 Jahre andauernden Konflikts mit Israel auf die mentale Gesundheit der Palästinenser zu untersuchen. Das Buch, das auf ihrer Doktorarbeit basiert, ist die erste wissenschaftliche Studie zum Thema Selbstmord in der arabischen Welt.

Dabei interessierte sich die Autorin aber nicht für die vielen Selbstmordattentäter, die im Freiheitskampf gegen die Besetzung Israels, der Intifada, medienwirksam ihr Leben ließen, sondern für Menschen wie Aisha und Abid, die aus ganz privaten Gründen sterben wollten.

"Die Geschichten der Frauen und Männer, die ich nach ihren Selbstmordversuchen betreut habe, erzählen von der ungeschminkten Realität des Lebens in den besetzten Gebieten", sagt die junge Frau. "Ihre Schicksale geben uns Einblick in die möglichen Samenkörner der Motivation in den Köpfen mancher Attentäter."

Ausführlich erklärt sie den Unterschied von Selbstmord und Märtyrertum in der Auslegung der wichtigsten heiligen Schriften des Islam, Koran und Hadith. Im modernen islamischen Verständnis verankert ist demnach: Wer für den Heiligen Krieg und die Ziele der Gemeinschaft stirbt, gelangt als Märtyrer ins Paradies. Wer aber am alltäglichen Leben verzweifelt, begeht eine der größten Sünden im Islam und bringt Schande über seine ganze Familie.

Knapp drei Millionen Palästinenser leben auf engstem Raum, ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Nach Angaben der Weltbank lebte 2004 die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, und ein Viertel war arbeitslos. In den vergangenen vier Jahren sank das Durchschnittseinkommen um ein Drittel. Der emotionale Stress, der sich aus dieser Extremsituation ergibt, findet in der Gesellschaft kein Gehör. In Ramallah, wo rund 280.000 Menschen leben, gab es, als Dabbagh dort recherchierte, gerade einmal zwei Psychiater.

Dabbagh war zwischen 1997 und 1999 in den besetzten Gebieten, nachdem der Osloer Friedensvertrag 1991 eine Intifada beendete. Yassir Arafat hatte damals viele ausgewanderte Palästinenser in die Palestinian National Authority einberufen, die die autonomen Palästinensergebiete verwaltete. Diese Leute hatten die Intifada nicht miterlebt, bekamen die besten Jobs und bereicherten sich durch Korruption. Dadurch sank die Hoffnung auf verbesserte Lebensumstände noch mehr, erzählen Dabbaghs Patienten.

Sobald sie auf die Intifada zu sprechen kamen, leuchteten bei vielen Patienten die Augen, erinnert sich die Autorin. Viele hatten während der Intifada gekämpft und einige Zeit im Gefängnis verbracht. Im Widerstand fühlten sie sich durch die gemeinsame Sache vereint. "Wenn man in die besetzten Gebiete fährt, hat man den Eindruck, viele Helden zu treffen", so Dabbagh. "In schweren Zeiten zeigen sich die Menschen lieber von der harten Seite. Wenn man sich im Krieg befindet, darf man nicht verzweifeln, man muss kämpfen."

Dabbaghs Gespräche mit insgesamt 31 Frauen und Männern, die sie nach ihren Selbstmordversuchen interviewte, geben Einblick in das Wertesystem der palästinensischen Gesellschaft. "Männer können ihre Rolle als Mann in der Gesellschaft nicht ausüben. Als Kämpfer oder Märtyrer gewinnen sie Anerkennung", resümiert Dabbagh.

Die akribisch akademischen Aufzeichnungen und Dabbaghs Bemühen, an Selbstmordstatistiken zu kommen, bilden den zähesten Teil des Buches. Spannender als die Zahlen, die sie recherchierte, sind die Beschreibungen des mangelhaften Zustands der öffentlichen Institutionen in den Palästinensergebieten. Überraschend unterhaltsam sind die Abenteuer, die sie erlebte, um an Informationen zum Tabuthema Selbstmord zu kommen - in Krankenhäusern, bei praktischen Ärzten, Polizeistationen und Bezirksgerichten.

Heute, da gerade Ariel Sharon und Mahmoud Abbas eine neue Waffenruhe unterzeichnet haben und die vierjährige Intifada möglicherweise zu Ende geht, geben Dabbaghs Recherchen Aufschluss über die Herausforderungen für den Wiederaufbau der palästinensischen Gesellschaft.

"Man muss jetzt daran denken, wo die nächsten Jobs herkommen und wie die öffentlichen Institutionen rasch wieder aufgebaut werden können. Es ist wichtig, Sozialarbeiter, Krankenschwestern und Ärzte psychologisch zu schulen." All das würde helfen, dem Frieden eine realistischere Chance zu geben. (DER STANDARD, Album, Print, 26./27.2.2005)