Das österreichische Künstlerkollektiv "Gelatin" belieferte das Centre Pompidou mit Dionysischem ohne Titel.

Foto: Emmanuel Perrotin, Paris; Galerie Meyer Kainer, Wien
Foto: Emmanuel Perrotin, Paris; Galerie Meyer Kainer, Wien

Mit dabei das österreichische Kollektiv "Gelatin", der Südafrikaner Kendell Geers und die stets präsenten Thomas Hirschhorn und Jonathan Meese.

Paris – Der Gott Dionysos gießt seine berauschenden Flüssigkeiten über Künstlerköpfe aus, flößt ihnen Nietzsche-, Debord- oder Deleuze-Sätze zur theoretischen Absicherung ein und kolonialisiert mit der Ausstellung Dionysiac das Centre Pompidou.

Zur Vernissage zog der griechisch-subversive Rauschgott, bzw. seine Erdenvertreterin, die Kuratorin Christine Macel, die gesamte französische Kunstwelt inklusive glitzernd verkleideter Adabeis an. Eine lange Schlange vor dem Zentrum, eine noch längere im Inneren und übervolle Säle für ein institutionalisiertes Happening, wie sie das vom trockenen Museumsdirektor Alfred Paquement geleitete Zentrum schon lange nicht mehr erlebte.

Vom Erotikon über Pornoanwandlungen bis zum überhitzten (plus 30 Grad in den Sälen) oder unterkühlten (minus 24 Grad im Gefriercontainer des Christoph Büchel) Übermaß glitschte das tragisch-burleske, ironisch-zynische, spielerisch-provokante, immer exzessive Spektrum der Künstlerangebote.

Zum Ausstieg nach dem Gedränge trank man Champagner aus 26 cm hohen, penisförmigen Gläsern made by Kendell Geers. Vierzehn Künstler, darunter das österreichische Kollektiv Gelatin, zeigten viele, extra für die Dionysiac-Schau angefertigte und möglichst den Bürgersinn irritierende Werke.

Gelatin – Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reitner, Tobias Urban – wählten den Ein-und Ausgangssaal, um mit einer vom Plafond herunterhängenden Riesenskulptur die Betrachter mittels meterlanger Zunge zu schlecken. Oder ihnen die Zunge auch nur zu zeigen. Was je nach Individualparanoia zu interpretieren ist. Drei provokante Mischtechnik-Gemälde, aus deren Grund Brüste, Penisse oder Teddybären hervorquellen, ergänzen den bunt bewegten, leichtfertigen Einstieg ins Dionysische.

Thomas Hirschhorn, der derzeit in keiner Kollektivpräsentation fehlen darf, ist mit einer Installation aus dem Jahr 2000 vertreten, die erstmals in Europa zu sehen ist: Ein enormer Kuchen und dazu zwölf "Kulturträger-Löffel" sollen an Utopien oder Tragödien des 20. Jahrhunderts erinnern: mit Anspielungen auf Rosa Luxemburg, auf Malewitsch, auf den Umgang der Nazis mit Kunst.

Jonathan Meese verstreute über eines seiner "psychodramatischen" Riesengemälde obszöne Sätze: "Ich schau hin in deine Fratze, du Schwanz im Glück. Ich möchte dein Säcklein trinken (Geilheil)." Die aktualisierte Installation des Duos Jason Rhoades und Paul McCarthy, die sie nach der Documenta XI in Paris wieder aufnehmen, heißt jetzt Sheep Plug. Mit Farbe übergossene Penisse wachsen aus dem Boden, Kartons, Tische und Abfall zeugen von einer Kunst-Schlacht.

Im Nebensaal stellt Richard Jackson acht Vinyl-Bären mit Schläuchen im After und Farbe als Urinersatz auf – der Strahl trifft Marcel Duchamps Pissoir. Nur Fabrice Hyber und Kendell Geers gehen noch drastischer zur Sache: Fabrice Hyber versteckt ein "Interracinal-" Porno-Video hinter Vorhängen (im Museum getarnt, wie einst Gustave Courbets Ursprung der Welt). Kendell Geers bewarf La Sainte-Vierge (Die heilige Jungfrau), das sind bei ihm gleich sechs offensive Nackte, mit schwarzer Farbe.

Vor dem Centre Pompidou wird ein Flugblatt verteilt, das sich ironisch zur Tatsache äußert, dass Dionysiac zu 100 Prozent männlich ist. Dionysiac überträfe die Sammlungen des Centre, in denen "nur" 93 Prozent der Werke von männlichen Künstlern stammen. Aber was hätte eine Alibikünstlerin in dieser Kunsthölle zu suchen, in der sich selbst die Kuratorin als "Kurator", "Konzeptor", "Impulsgeber", "Produzent" und "Auffänger" bezeichnet? (DER STANDARD, Printausgabe, 22.02.2005)