CONTRA:
Fordern und Fördern

Von Conrad Seidl



Die Problemkinder der Pisa-Studie sind die Hauptschüler: Sie können im Schnitt viel weniger als die 15-Jährigen in den "angeseheneren" Schulformen, mit dem Schulerfolg der AHS ist jener der Hauptschule nicht zu vergleichen. Das ist nicht wirklich überraschend. Man weiß seit Jahrzehnten, dass die höheren Schulen Ergebnisse liefern, die sich nicht zu verstecken brauchen (auch nicht vor den Ergebnissen des Pisa-Musterlands Finnland). Dabei gibt es an den AHS genügend Problemkinder - Schüler, die da und dort nicht mitkommen, die mit Lern- und sonstiger Disziplin Schwierigkeiten haben. Im Schnitt aber gelingt eine ganz gute Schullaufbahn, weil der fordernde Schulalltag zur Leistung anspornt.

Theoretisch sollte das an der Hauptschule (und den zahlreichen Versuchen von Gesamt- und "Neuen" Mittelschulen) genauso sein, weil ja eigentlich der gleiche Lehrplan gilt - und weil an der Hauptschule mit besonderer Sensibilität auf die pädagogische und soziale Förderungswürdigkeit schwächerer Schüler eingegangen wird. Es hilft halt bloß nicht in allen Fällen: Es gibt Schüler, denen mit zehn der Knopf nicht aufgegangen ist - manchen geht er mit 14 auf (für diese gibt es alle möglichen Formen weiterführender Schulen). Manchen geht der Knopf erst ein paar Jahre später auf - auch nicht tragisch, es gibt ja die Möglichkeit, auch nach einer Lehre die Matura zu machen und sogar zu studieren. Manche schaffen es nie - das muss man eingestehen. Im Wissen, dass eben nicht alle für eine Schule wie die AHS- Unterstufe geeignet sind, pädagogischen Eintopf für alle anzubieten, ist schlicht eine Aushöhlung der ohnehin bescheidenen Erfolge, die das Bildungswesen erzielt.

 
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PRO:
Soziales Kapital schaffen

Von Lisa Nimmervoll

Das Lehrerurteil lautete: Andreas ist ungeeignet fürs Gymnasium. Seine Volksschulleistungen sind einfach zu schlecht. Der wird es nie zu einem höheren Abschluss bringen. Und ob er das wird, meinte Andreas’ Vater, ein Uni-Professor für Erziehungswissenschaft. Er bestand darauf, dass sein zehnjähriger Sohn ins Gymnasium wechselt. Der ehrgeizige, durchsetzungsfähige Herr behielt Recht. Matura mit Notenschnitt 1,0, Doktorat. Heute ist Andreas Schleicher OECD-Chefanalyst und Vater der Pisa-Studie. Wäre Andreas Schleichers Vater arbeitsloser Bauarbeiter gewesen, die Geschichte wäre wohl anders ausgegangen. Schleichers Bildungsbiografie ist der beste Beleg dafür, wie schwach die diagnostische Prognosefähigkeit bei einem zehnjährigen Kind ist. Dafür ist der Einfluss der Herkunftsfamilie, deren sozioökonomisches Umfeld, das "soziale Kapital", umso größer.

Die Pisa-Studie hat gezeigt: Soziale Hintergrundfaktoren gehören zu jenen, die sich am stärksten auf die Leistung auswirken. Gut für die, deren Eltern Akademiker sind. Sie kriegen mit der Geburt fast automatisch das Maturazeugnis gleich mit. Pech für Kinder aus "bildungsfernen" Schichten. Pech darf in einer aufgeklärten Gesellschaft, die daran interessiert ist, soziale Teilhabechancen möglichst gerecht zu verteilen, aber keine Kategorie sein. Schule muss - neben der Vermittlung von Wissen - mehr leisten als die Anhäufung von zusätzlichem sozialem Kapital, wo ohnehin schon solches in größerem Ausmaß vorhanden ist. Schule hat eine wichtige gesellschaftspolitische Kompensationsfunktion. Je länger sie individuelle Defizite kompensieren kann, ohne zukunftsentscheidende Schritte zu erzwingen, desto gerechter ist sie.

(DER STANDARD-Printausgabe, 22.02.2005)