Das Gute an Pisa ist, dass über Bildung und staatliche Erziehung wieder breit diskutiert wird. Das Bedauerliche an Pisa ist, dass nur über schulische Leistung diskutiert wird. Was braucht das Kind: optimale Förderung in seinen individuellen Anlagen und Möglichkeiten. Bekanntlich wird bei einem normierten Leistungstest für Baumklettern ein Affe immer schneller auf den Baum klettern können als ein Elefant.

In einer Diskussion im ORF hat unlängst ein Pädagoge aus Finnland das Problem lapidar auf den Punkt gebracht: Menschen lernen nur dann gut, wenn sie eine fördernde Atmosphäre vorfinden. Es gibt Schüler, die "spielen" sich in der Schule mit den Leistungsanforderungen. Für die meisten aber ist das derzeitige Lernen eine Qual.

Demotivierte Schüler werden von ihren Eltern ebenso wie von ihren Lehrern oft als faul und desinteressiert (wie richtig!) beschimpft; nicht selten dreht man auch in diversen Psychotests an ihrem Intelligenzquotienten herum oder verabreicht ihnen gar Stress unterdrückende Medikamente.

Häufig hört man die Eltern klagen: Das Kind sitzt nur vor dem PC, hat nur Computerspiele im Kopf, interessiert sich "für nichts". Bei näherem Hinsehen aber stellt sich he^raus, dass diese Kinder sich sehr wohl für vieles interessieren. Allerdings sind das Inhalte, die für Eltern und Lehrer bedeutungslos sind und daher auch weder in der Schule vorkommen noch von Pisa erfasst werden. Bei diesen "Nebensächlichkeiten" handelt sich beispielsweise um Fragen des Zusammenlebens zwischen Kindern, Eltern und anderen Erwachsenen, um Musik, die vielen von uns nur als Geräuschkulisse zugänglich ist, um Sport, um das "Erwachsenwerden" ...

Finden Kinder dafür nicht ausreichend Raum, können sie keine kognitiven Inhalte aufnehmen. Das unkonzentrierte Kind interessiert sich schon – nur eben für anderes. Dass es dabei spielerisch viel Lebenspraktisches lernt, bemerken Eltern meist nur dann, wenn ihnen der Sprössling bei einer Computerpanne hilft oder in der Schule im Fach Informatik – auch ohne Lernen – brilliert.

Dass Kinder, die schlechte Zensuren haben, plötzlich in Freifächern ohne Notendruck aufblühen, ist wohl kein Zufall. Wie wäre es, wenn man beispielsweise Mathematik nach dem Erlernen der Grundrechnungsarten (Sie reichen in vielen Fällen sogar für ein ganzes Akademikerberufsleben aus!) als Freifach einrichten würde? Plötzlich wären die Lehrer gefordert, die Pfade des "Üblichen" zu verlassen und auch Interessantes, Fantastisches und Spannendes anzubieten – und davon gibt es, wie uns Rudolf Taschner in seinem "math.space" immer wieder vorführt, gerade in der Mathematik reichlich. Zumal doch auch die Lehrer lieber etwas unterrichten, was sie selbst interessiert, um nicht dazu "verdammt" zu sein, dank Schulstress überproportional zu Frührentnern zu werden! Und wie viel lieber wären Eltern stolz auf ihre Kinder, weil diese sich ungeduckt und locker ihren altersgemäßen Interessen widmen und mit Spaß am Leben lernen. Was höre ich da? "Spaß am Leben – na so weit kommt's noch! Das Kind muss begreifen, wie die Welt ,wirklich‘ ist – und die ist nun einmal unwirtlich und ungerecht."

Was tun? Die Schulreform muss auch eine "innere" sein: Organisatorische Änderungen allein bewirken nichts. Dies sagt auch der Pisa-Verantwortliche. Gewiss: Patentlösungen gibt es nicht – aber warum lässt man eigentlich nicht die direkt Betroffenen ran: Schüler und Lehrer. Erstere wissen zumeist recht genau, wo sie überfordert sind, aber auch wo und wie sie gefordert werden wollen – und das heißt in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle: nicht durch ein unwürdiges Notensystem, sondern durch soziale Anreize und durch Lob.

Ähnliches gilt natürlich auch für die Lehrer: Auch sie wissen nur zu gut, woran es krankt, wenn der Unterricht in Routine erstarrt, und suchen nach neuen Herausforderungen. Dass es manche gibt, die schon mit 40 an die Pension denken, ist kein Gegenargument: Das Burnout-Syndrom ist zum Glück reversibel und das Wieder-"Brennen" eine Sehnsucht, die bekanntlich nicht nur Lehrer verspüren.

Kurzum: Leistungsangst kann durch Leistungslust ersetzt werden. Dann brauchen auch die Schulreformer keine Angst mehr vor der Zukunft zu haben! (DER STANDARD-Printausgabe, 22.2.2005)