Längst fügt sich das in eine ebenfalls schon wieder ein paar Jahre alte Tradition des Neorassismus, der in kultursoziologischen Kreisen auch unter dem Label "Kulturalismus" bekannt ist: denn der klassische, biologistische Rassismus ist weit gehend verschwunden. Der moderne Rassist ist in der Regel nicht der Meinung, der andere sei genetisch minderwertig oder in irgendeiner naturwissenschaftlichen Hinsicht rassisch schädlich - er erlaubt sich nur den Hinweis, die anderen haben eine andere Kultur. Die müsse nicht schlechter oder besser als die unsere sein, es reicht, dass sie eine fundamental andere ist, um den Schluss zu provozieren: Wir und die anderen sollten uns besser nicht ins Gehege kommen. Was dann meistens konkret heißt: Sie sollten bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Alle Diskurse, zuvorderst der über Menschenrechte, sind eingefärbt von "Kulturalismus" - was insofern erstaunlich ist, gilt doch seit frühen Zeiten als Voraussetzung für die universelle Geltung des Rechts, dass dessen Autorität "ohne Ansehen der Person" wirke (daher auch die verbundenen Augen der Justitia).
Es lässt sich nicht mehr übersehen: Kultur ist nicht das, was wir in den Kassettenrekorder schieben, Kultur ist das, was wir in den Knochen haben. Kultur ist das, wofür man tötet - von Bosnien bis Beslan, von Solingen bis Amsterdam. Wobei für die Diagnose des Kampfes der Kulturen ironischerweise unerheblich ist, ob die anderen Religionen anhängen oder Riten pflegen, die für uns unzugänglich sind, oder ob sie, ganz im Gegenteil, sich aus dem Fundus unserer kulturellen Zeichensprache bedienen. So sorgte zuletzt der Umstand für einiges Erstaunen, dass radikale Islamisten, um nicht beim Feind einkaufen zu müssen, eine eigene Produktpalette entwickelten. Jetzt trinken sie "Mekka Cola".
Es hat eine innere Logik, dass sich politische Konfliktlagen ausgerechnet in jenem Augenblick "kulturalisieren" und - was nur eine andere Bestimmung derselben Sache ist - der Begriff der Kultur zu einer potenziell mörderischen Waffe wird, indem erstmals von einer "globalen Kultur" die Rede ist. Denn die Eigenart dieser globalen Kultur des postmodernen Kapitalismus - oder wie es früher hieß: des Spätkapitalismus - ist ja, dass wir sie nicht eigentlich als Kultur begreifen. Dies ist es, was Terry Eagleton die "liberale Form des Imperialismus" nennt.
"Identität" haben die anderen oder die rückständigen Inseln im Westen, in denen sich noch ein paar Archetypen der Volkstümlichkeit bestaunen lassen, doch der Westen selbst hat keine bestimmende Identität, weil er keine benötigt. "Fremd sind die fremden Kulturen, während die eigene Lebensform die Norm und daher eigentlich gar keine 'Kultur' ist. Vielmehr ist sie der Maßstab, an dem andere Lebensformen sich eben als Kulturen erweisen."
Dies ist eine neue, verschobene Form der alten Kolonisator-Kolonisierter-Verhältnisses, weil es, wie Slavoj Zizek anfügt, "nur noch Kolonien gibt und keine kolonisierenden Länder", die kolonisierende Macht ist allenfalls die globale Firma - oder das diffuse Milieu der globalisierten Eliten -, aber kein Nationalstaat mehr. Das ist der Sinn von Zizeks Kritik am wohlmeinenden Multikulturalismus, der für ihn nur eine Spielart des Rassismus ist - denn dieser ist, nach Zizek, eine "Einstellung, die von einer Art leeren globalen Platzes aus jede Lokalkultur so behandelt, wie der Kolonist die zu kolonisierenden Menschen behandelt - als 'Eingeborene', deren Sitten genau studiert werden müssen und die zu 'respektieren' sind."
Verkompliziert wird die Sache noch durch den Umstand, dass diejenigen, die in diesem Sinne noch "Kultur" haben, keine bewusstlosen Wilden sind, sondern gewissermaßen beseelte Museumsstücke, die zwar möglicherweise die Zeichensprache der globalen Kultur nicht vollends souverän beherrschen, aber doch von ihr überschrieben sind und die wissen, dass sich ihre Lebensart mit dem Wort "Traditionspflege" auf einen schönen Begriff bringen lässt - egal, ob es sich jetzt um die Bäuerin handelt, die einmal in der Woche noch das Brot "wie früher" bäckt und sich ansonsten 23 TV-Programme reinzieht, oder der Imam, der unter seinen knöchellangen Gewändern Nike-Sportschuhe trägt.
Die "Kulturalisierung" des Politischen hat also sehr wohl etwas mit Wirtschaft zu tun, und zwar, was auch wiederum kein Zufall sein kann, mit einer Ökonomie, die selbst immer mehr von Kultur durchdrungen ist - so sehr, dass wir eigentlich kaum mehr Wirtschaft sagen können, ohne Kultur zu meinen. Nicht allein der Tourismus lebt von den "Kulturen", der politische Streit wird "kulturalisiert" und auf diesem Weg selbst zur Ware - und zwar als Entertainment. Bei TV-Formaten wie Hauser und Kienzle oder, aktuell, bei Glotz & Geißler, interessiert an differenten Meinungen vor allem, dass es laut kracht, und wenn hier nicht die Wähler ihre Stimme abgeben, so stimmt doch der Kunde auf die ihm eigene Art ab - mit der Fernbedienung in der Hand.
Kaum eine Firma kann es sich heute mehr leisten, ein Produkt einfach so auf den Markt zu werfen. Das moderne Unternehmen ist das Kulturunternehmen, der zeitgenössische Kapitalismus, nach einem Wort von Jeremy Rifkin, ein "Kulturkapitalismus". Es würde schon zu kurz greifen, einfach zu formulieren: Das Image ist so bedeutend wie der Gebrauchswert einer Ware. Denn oft ist das Image der eigentliche Gebrauchswert. Design ist nicht nur Reklame, die den Verkauf befördern soll, das Design ist das eigentliche Produkt. "Was wir auf dem Markt kaufen", schreibt Slavoj Zizek, "sind immer weniger Produkte und immer mehr Lebenserfahrungen wie Essen, Kommunikation, Kulturkonsum, Teilhabe ein einem bestimmten Lebensstil." Die materiellen Objekte sind lediglich "Requisiten" dessen, was eigentlich verkauft wird. Firmen haben damit begonnen, ihre Produkte mit einem Lebensstil, einem Lebensgefühl zu verbinden, um sie besser verkaufen zu können - und heute werden die Produkte längst in erster Linie gekauft, um einen Lebensstil zu erwerben. Der trainierte Körper wirbt nicht mehr für Nike, sondern Nike repräsentiert den trainierten Körper. Wurde Kultur irgendwann in den Sechzigerjahren wesentlich für den Kapitalismus, so ist sie im Zeitalter der Postmoderne eigentlich ununterscheidbar von ihm.
Allseits bekannt ist, wie aussichtslos es ist, sich gegen den Kommerz zu sträuben: Auch die Hippies waren eine Marktlücke, und "was gestern subversiv war, kann man heute im Laden kaufen" (aus Hans Weingartners Die fetten Jahre sind vorbei). Das Resultat ist nicht nur eine Verdinglichung der Kultur, wie manchenorts beklagt, sondern eben auch eine "Kulturalisierung" der Dinge.
Doch wenn immer mehr Gefühle und Affekte und immer weniger Gebrauchswerte verkauft werden, dann bedeutet das auch, dass Gefühle und Affekte in bisher ungekanntem Ausmaß in die Warenproduktion investiert werden müssen. Die Produktion tritt über die Ufer des Bereichs, der traditionell als das Ökonomische gilt. Wie die Konsumtion den Konsumenten will sie den Produzenten mit Haut und Haaren. Eine Konstellation, in der Kurzschlüsse vorprogrammiert sind.