So viel steht wohl fest: Seinesgleichen tut sich schwer mit dem schulischen Malheur. Die Frage ist: Liegt's allein an dem System, oder ist das zu bequem?

Abb.: Wilhelm Buschs "Lehrer Lämpel"
Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Abkehr vom Schüler/innen-"Auslesemodell" in der Unterstufe, zugeeignet der "Mit-uns-nicht"- Fraktion am Bildungsgipfel

Natürlich ist es sehr gut möglich, dass in den im Spitzenfeld der Pisa-Studie liegenden Ländern die hervorragenden Ergebnisse nicht nur von der Akzeptanz eines "gemischten" Publikums (heterogene Schülerpopulation) bewirkt werden, sondern auch von den schulautonomen Entscheidungsstrukturen (Lehrerbestellung, Curriculum und Finanzplanung in der Verantwortung gewählter lokaler Schulregierungen) und vom weitgehenden Verzicht auf Noten.

Der Verdacht freilich, dass es doch ganz wesentlich die Sortierung der Schüler in der Sekundarstufe I ist, welche die Hauptschuld an unserer Pisa-Blamage trägt, wird durch folgenden Tatbestand erhärtet:

Unsere wie auch die bundesdeutschen Grundschüler können nach vierjährigem Verbleib im heterogenen Verband mit den Altersgleichen aus den Siegerländern durchaus mithalten. Nach fünfjähriger Verweildauer in den Etagen der Homogenität aber sind sie weit abgeschlagen, und zwar in der gesamten Streubreite der Begabungen!

Welche Gegebenheiten tragen die Schuld? Im gegliederten System, das sich krampfhaft - und dennoch immer mit einer Fehlerquote von rund einem Drittel - bemüht, möglichst homogene Schülerkontingente zu schaffen, gibt es immer Unter- und Überforderung. Dieses Phänomen ist die logische Konsequenz eines Unterrichts nach dem Exerziermodell: gleiche Inhalte - in gleicher Weise - in gleicher Zeit und im selben Tempo für alle.

Vor Schülergruppen, die als homogen gelten, scheint dieses Vorgehen ja auch legitim zu sein. Die Unterforderten langweilen sich, die Überforderten brauchen Nachhilfe oder werden abgeschoben. Der geborene Lehrer, der dem Strauchelnden besondere Hilfe zuteil werden lässt, versündigt sich am System! Dieses lädt ihn nicht dazu ein, als Pädagoge (Trainer und Helfer) zu agieren, sondern sieht ihn als Diagnostiker (Standards erreicht?) und Richter. Helfen? - Nein, aburteilen! Wozu gäbe es im Haus der Schule Souterrains?

Indem die echte Gesamtschule die Methoden variiert, statt die Schüler zu sortieren, leitet sie eine Kopernikanische Wende ein. Die Methode der inneren, der unterrichtlichen Differenzierung ist für hochschulmäßig ausgebildete Lehrer die adäquate Herausforderung. Das didaktische Material steht zur Verfügung.

Der individualisierende Unterricht kennt keinen Gleichschritt und bremst daher die Begabten nicht ein. Außerdem fordert das "peer-tutoring", die Hilfslehrer-Funktion, ihrem Denken deutlich anspruchsvollere Strategien ab als das bloße Lernen für die Prüfung.

Den schwachen Schülern ermöglicht die Gesamtschule das so bedeutsame Lernen am Vorbild (Imitationslernen). In den unteren Rängen der gestuften Schulsysteme gibt es dagegen keinen mehr, der einen hörenswerten Aufsatz schreibt, der englisch amüsant zu formulieren versteht und der elegante mathematische Lösungen findet. Ihre ausgegrenzten Schüler infizieren einander mit Desinteresse und reagieren auf die erlittene Frustration mit Aggression.

Was in den Debatten um die Schulreform immer wieder übersehen wird: Unsere Grundschulen sind echte Gesamtschulen! Und siehe, es sind die Schulen mit der größten Zahl an lernfreudigen und glücklichen Kindern! Was bei den Zehnjährigen Not tut, ist das Ersetzen der einen Lehrerin durch einige Fachkräfte, nicht aber die Selektion der Kinder!

Was die Grundschullehrerin gekonnt hat bzw. kann, nämlich alle Gegenstände vor heterogenen Schülern zu unterrichten, das werden die (derzeit noch unterschiedlich ausgebildeten) Gymnasial-und Hauptschullehrer in ihren zwei Spezialdisziplinen selbstverständlich auch zustande bringen.

Gleiche Chancen . . .

In einer Sekundarstufe I ohne abgestufte Etagen mit kontingentierter Platzzahl erlebt sich keiner mehr als unerwünscht. Soziologische Untersuchungen decken erschreckende Zusammenhänge auf zwischen der Bedrohung des Selbstwertgefühls durch schulische Ausgrenzung und der Flucht in die Subkultur. Ein Jugendlicher ist nun einmal lieber Mitglied einer anomischen Clique als ein identitätsloser Niemand.

Nach einem Wechsel zur Gemeinschaftsschule könnte uns und Deutschland jedenfalls keine Pisa-Studie mehr den Status von Weltmeistern in der schichtspezifischen Auslese attestieren. Und Vertreter der elitären Gesellschaftsschicht, die für ihre Kinder Ausleseschulen wünschen, müssen an das für die Demokratieentwicklung enorm wichtige ethische Axiom des J. Rawls erinnert werden, dass niemand für seinen sozialen Aufstieg zu einer Maßnahme greifen darf, die einem anderen den Abstieg beschert.

. . . statt Ausgrenzung

Sie mögen aber auch bedenken, dass es für die soziale Reifung ihrer Sprösslinge schädlich ist, nicht einmal in der pflichtigen Schulzeit das "einfache Volk" neben sich zu haben und seine spezifischen Qualitäten schätzen zu lernen. In einer gemeinsamen "Mittelschule" werden die Schulwahlsorgen der Eltern weit in die Jugendjahre hinein verschoben und die lebensbedeutsame Entscheidung wird auf der Basis einer sehr viel besseren Kenntnis des Begabungsspektrums getroffen. Das Fahrschülerproblem wird entschärft, weil doch überall dort, wo aufsteigende Volksschulklassen zustande kommen, auch die Gesamtschule Bestand hat.

Damit erhält das Kind im Pfarrdorf die gleichen schulischen Bildungschancen wie das in der Stadt.

Ein halbes Jahrhundert nach dem revolutionären Entscheid des obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten gegen die Rassentrennung in den Schulen sollte unser Parlament nachziehen und (für die pflichtige Schulzeit) ein Gesetz gegen die Trennung der Schüler nach Leistung beschließen, denn "die erzwungene Absonderung der Schwachen von den Tüchtigen erzeugt in ihnen ein Minderwertigkeitsgefühl, das ihre geistige Entwicklung hemmt und sie somit gleicher Chancen beraubt". (In diesem berühmten Textzitat des obersten Richters Earl Warren steht freilich statt schwach und tüchtig "schwarz" und "weiß"...) (DER STANDARD, Printausgabe, 14.2.2005)