Der große Roman über die heutigen Metropolen, diesen hybriden Lebensraum voller Gefahren, sei auf Deutsch noch nicht geschrieben, vermeldet bisweilen das Feuilleton als prospektive Verlustanzeige. Das Urbane kommt vielmehr meist als kleine Bruchstücksammlung daher. Daran hält sich nun auch Clarissa Stadlers Erzählung N., die - man wundert sich nach der Lektüre - der renommierte Literaturverlag Droschl vorlegt: Partys, Vernissagen, Gerede, Getue, kleine Szenen aus der Großstadt mit Wien-Erkennungsmarken, ein Klischeefreund Paul als Revolutionär im Wohnzimmer, eine radikale Geliebte Xenia als Täterin-Opfer im aufgesetzt explosiven Schluss und ein (wie die Autorin selbst) 1966 geborener, lauer Hauptdarsteller. Dieser bleibt derart unverbindlich, dass ihm als Titel-Name einzig das Anonymitätszeichen N. eignet, obwohl die kurze Geschichte und die knappen Wahrnehmungen zwar in Draufsicht, jedoch ganz aus seiner Perspektive erzählt sind. Er soll offenbar das nach-moderne Subjekt abgeben, im Gesellschaftsverkehr treibend, müde und cool.

Zu Beginn des kaum 90 Seiten schmalen Prosabändchens hat er gerade seine Kündigung erhalten - welchen Job er ausgeübt hat, bleibt ungesagt - und bemerkt beim Kaffeemachen "schlagartig", dass er verliebt ist. An ein dazugehöriges Gesicht vermag er sich nicht zu erinnern. In einem winterlichen ersten Teil geht er Frauen nach, kommt er deswegen bei seinem Rendezvous mit Anna zu spät, redet er mit einem polnischen Taxler, beobachtet er Menschen in der Straßenbahn.

Von Paul hört N. Zitate aus dem Schatzkästlein des systemkritischen Hausfreundes und denkt sich, er müsse "den Schlendrian der Stadt zu seinem eigenen machen". Der Fatalismus gilt ihm als seine größte Entdeckung.

Im zweiten, hochsommerlichen Teil trifft N. auf Xenia, die erklärt, in ihren Adern fließe Wut; zwischendurch fährt er mit Paul zum Kommunistenfest, schlendert durch Kaufhäuser, fliegt unmotiviert nach Palermo. "Liebe mich oder geh", sagt Xenia am Anfang des hitzigen dritten Teiles, der auf einen terroristischen Anschlag, ein Ende in Splittern und - dem einfachen Wetterparallelismus folgend - auf einen dunklen Himmel hinausläuft.

Diesen N. lässt Stadler sich in den Schemen eines bekannten Schemas bewegen. Sie liefert ein weiteres Exempel zur seit Langem ebenso starren wie fragwürdigen Identitätsabsage, dass das Ich ohnedies rettungslos verloren sei. Der "Tagedieb", wie er sich selbst nennt, meint nach der bekannten Phrase, in seiner Wahrnehmung zerfalle sein Leben in Splitter; und Clarissa Stadler bietet die entsprechende Erzählweise. Die Abschnitte reichen gerade über ein, zwei Seiten, größere Zusammenhänge ziehen gegen das Fragmentarische den Kürzeren. Bruchstücke können wohl Brennspiegel abgeben; das Sujet jedoch bleibt hier blass: Dass ein leerer Charakter die bezeichnende Ausgeburt unserer Zeit wäre - das ist nicht mehr als eine zirkelschlüssige Vorstellung.

Das Zeitlose, das Stadler dem Untertitel "Eine kleine Utopie" aufträgt, ist in dieser Prosa kaum, auch nicht ironisiert, zu erkennen, und das vorangestellte Motto setzt den literarischen Maßstab nicht nur zu hoch, sondern auch falsch an: "Eine Welt, die sich selbst in die Luft jagt, kann man nicht mehr porträtieren." Der Satz ist "Hermann Broch, 1966" zugewiesen. Entweder handelt es sich dabei um eine falsche Angabe (Broch verstarb 1951) oder dies bezieht sich recht simpel auf die Idee von N., man möge seinen Lebensbeginn als Fixpunkt nehmen und besonders alle Kinofilme aus seinem Geburtsjahr sehen, denn "1966 war ein gutes Jahr".

Trotz mancher in lakonischer Knappheit gelungenen Passage schafft Clarissa Stadler nicht, was sie ihrer Figur in die Gedanken legt, nämlich "sich aus einzelnen erlebten Momenten einer nahezu präzisen Wirklichkeit anzunähern". Dazu fehlt es ihrer Sprache zu oft an Genauigkeit und Geschick: die Sprinkleranlagen "jagen einen Deut Feuchtigkeit durch die Luft"; ein Kellner schaut "nach oben, in Richtung Himmel". Die stilistische Unsicherheit äußert sich im Vergleichsüberschuss, die ästhetische Verkrampfung in aufgeladener Bedeutung. Auf nur acht Zeilen liegen Taschen "wie Trophäen" zu Füßen, stehen Partygäste "wie Öl und Wasser" getrennt, beuteln andere "wie Hunde" Schnee aus dem Haar; zu Beginn des dritten Teiles legt sich Musik "wie Honig über die Welt", klingen Stimmen "wie hinter Watte", treibt Plankton "wie Schnee".

Zudem wirken einige Motive plakativ, etwa wenn Pauls Augen gelasert werden und redundant, gar kursiv, für Begriffsstutzige dasteht: "Er wird klar sehen. Alles klar sehen." Dass dem letztlich nicht so ist, beruht auf dem bemühten Zufall, der Paul in die Detonation radeln lässt. Seine kurz davor angestimmte Klage über "dieses Land" repetitiver Korruptheit verdankt er weniger einem klaren Blick als den seit Ende der Achtzigerjahre gängigen - nicht falschen, jedoch wenig differenzierten - Formeln.

Clarissa Stadler versucht sich an einem literarischen Ausdruck heutiger Befindlichkeiten, an einer Prosa der Knappheit. Sie schafft bemerkenswerte Ansätze, allerdings noch nicht jene so einfach scheinende und doch so hintergründige Sprachkunst, wie wir sie etwa von Alois Hotschnig kennen.

Der letzte Satz in dem großartigen Roman Leonardos Hände lautet bei Hotschnig: "Aber das stimmte nicht." Stadlers N. weiß mittendrin: "In Wahrheit stimmte das natürlich alles nicht." Überfrachtete Kürze. (D ER S TANDARD , Print, 12./13.2. 2005)