Lichte Heiterkeit, die langsam der Ernüchterung weicht: Jelena Kuzmina als stille Heldin in Boris Barnets Antikriegsdrama "Vorstadt/Okraina" aus dem Jahr 1933.

Foto: Filmmuseum
Wien - Das Werk von Boris Barnet (1902-1965), den das Österreichische Filmmuseum ab heute, Freitag, vorstellt, stand vor allem in der Rezeption im Ausland lange Zeit im Schatten der Klassiker des russischen Montagekinos. Vor allem andere Regisseure - von Jean-Luc Godard über Otar Iosseliani bis Martin Scorsese - schätzten den großen Unbekannten. Einer breiteren Öffentlichkeit galt er dagegen längst als vergessen.

Der junge Barnet erregt Anfang der 20er-Jahre als Boxer Aufmerksamkeit. In der Schule von Lew Kuleschow erhält er Schauspielunterricht - als Darsteller tritt er auch in der dreiteiligen Abenteuerserie Miss Mend (1926) auf, den Credit für die Regie teilt er sich noch mit Fjodor Ozep.

Danach dreht er Das Mädchen mit der Hutschachtel (Dewuschka s korobkoj, 1927) und Das Haus in der Trubnaja-Straße (Dom na Trubnoj, 1928). Bereits diese frühen Arbeiten belegen ein Interesse an sozialen Verhältnissen - und an (städtischen) Räumen - das sich allerdings mit einem scharfen und lustvollen Blick für die komischen Facetten zwischenmenschlicher Begegnungen paart:

Vordergründig ist etwa Das Mädchen mit der Hutschachtel eine Typenkomödie. Im Zentrum steht eine Liebesgeschichte mit Hindernissen. Eine gewitzte Modistin (Anna Sten), die in Heimarbeit Hüte fertigt, begegnet einem armen Studenten, der im bitterkalten, winterlichen Moskau keine Bleibe findet. Sie bringt ihn bei ihrer knausrigen Arbeitgeberin und deren arbeitsscheuem Ehemann unter. Ein überraschender Lotteriegewinn tut das seine, um die bereits bestehenden (Gefühls-)Turbulenzen noch zu verschärfen.

Das Haus in der Trubnaja-Straße rückt die Mieter eines großen Wohnbaus in den Mittelpunkt und schließt die Klassenunterschiede zwischen Dienstboten und kleinbürgerlichen Unternehmern bereits mit der Politik, zumal mit der Gewerkschaftsbewegung zusammen. Auch hier setzt Barnet immer wieder auf kleine slapstickartige Einlagen - eine melancholische Heiterkeit prägt die Handlung, entschärft Konflikte jedoch nur vorübergehend.

Massenbewegung

Daneben fließen in beiden Filmen immer wieder dokumentarisch anmutende Aufnahmen aus dem Moskau der späten 20er-Jahre in die Erzählungen ein. Barnet scheint vor allem fasziniert von der beschleunigten Fortbewegung, von den Menschenmassen, die die Straßen füllen. Und er übersetzt diese Phänomene in rasante Fahrtaufnahmen, in dichte Montagesequenzen, die in ihrer Pointiertheit durchaus an Zeitgenossen wie Sergej Eisenstein erinnern. Wenngleich der Regisseur dieses Verfahren als eines unter anderen in diese und andere Filme integriert.

1933, vier Jahre nach der Verstaatlichung der Filmindustrie durch Stalin, dreht Barnet Vorstadt (Okraina). Keine Jubelproduktion, kein Sowjetmusical, wie sie sich damals größter Beliebtheit erfreuten, sondern ein entschlossenes Statement gegen den Krieg, das erst nach und nach zutage tritt: Die Handlung ist vorsorglich in die Vergangenheit verlegt - "Das Jahr 1914, in der Einöde des zaristischen Russland" - und doch schimmert ein Vorschein auf künftige Ereignisse durch diesen "Historienfilm".

Die Kriegserklärung Deutschlands beendet den schwelenden Arbeitskampf in einer Kleinstadt. Die Streikenden melden sich stattdessen an die Front, wo sie im lähmenden Stellungskrieg in Schützengräben nach und nach ums Leben kommen. Im Hinterland entbrennen währenddessen Konflikte zwischen der Bevölkerung und deutschen Kriegsgefangenen, die sich ihren Unterhalt selbst verdienen müssen, jedoch als Feinde keine Arbeit finden.

Zwischen die ratternden Maschinen in der Fabrik des russischen Stiefelfabrikanten, der die Armee beliefert, und das Maschinengewehrfeuer der Deutschen montiert Barnet hier fallende Soldaten. Die Frontlinie verläuft also nicht alleine zwischen Nationen. Sondern vor allem auch zwischen den Mächtigen - Funktionäre, Offiziere und Bonzen - und denen, die deren Interessen schlussendlich zum Opfer fallen.

Enttäuschte Illusionen

Vorsichtige Zeichen der Solidarität zwischen Arbeitern aus Ost und West enthalten am Ende einen Hoffnungsschimmer. Aber das Mädchen (Jelena Kuzmina), das seiner Empathie für einen Kriegsgefangenen wegen ins gesellschaftliche Abseits gerät, wird manche Illusion begraben.

Auch der Regisseur selbst hatte in späteren Jahren zunehmend gegen politische Vorgaben und erschwerte Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Seinen letzten Film, Zwischenstation ( Polstanok ) realisierte er 1963. Kurz darauf nahm er sich das Leben. Seine filmische Hinterlassenschaft bleibt nun zu entdecken. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.01.2005)