Was der demokratische Akt eines Urnenganges in einem Land und für ein Land, das so aussieht wie heute der Irak, bedeutet, ist nicht leicht einzuschätzen. Man möchte das Zeichen der Hoffnung betonen, das Statement, seht, wir setzen einen Anfang, inmitten der Gefahr und des Chaos, unter Einsatz des Lebens. Auch wenn es nur eine Minderheit ist - vielleicht werden es weniger als fünfzig Prozent der Wahlberechtigten sein, von den berechtigten Auslandsirakern haben sich gar nur ein gutes Viertel registrieren lassen: Aber irgendjemand muss damit anfangen.

Wäre das Wählengehen nicht so gefährlich, in manchen Gebieten fast unmöglich, würden nicht die arabischen Sunniten die Wahlen boykottieren: Die Wahlen wären beinahe überfällig. Die Schiiten fordern immer nervöser den Preis ihres Stillhaltens unter der amerikanischen Besatzung ein. Sie sehen, dass die Baathisten sich reorganisieren und mithilfe der teilweise schwer korrupten Interimsregierung in ihre alten Positionen zurückdrängen. Die Abhaltung der Wahlen kann mit Sicherheit den einen, bereits laufenden Aufstand nicht stoppen. Aber die Verschiebung der Wahlen hätte einen neuen auslösen können. Auch Interimspremier Iyad Allawi, der als "Saddam light" seine Anhänger hat, weiß selbst, dass die Unterstützung seiner Politik der harten Hand durch einen Sektor der irakischen Gesellschaft sowie die Zufriedenheit der Amerikaner mit ihm als Legitimation nicht mehr ausreichen.

Allawi wird für Falluja und seine Folgen - dreihunderttausend Flüchtlinge und eine weitere Entfremdung der Sunniten - verantwortlich gemacht, Falluja, die Stadt, deren kollektive Niederschlagung auf der Jagd nach einem Phantom, den Terroristen Zarkawi, nichts gebracht hat außer einen Hinweis darauf, wie stark der Aufstand wirklich ist: Eine ganze Stadt wurde zerstört, damit sie nicht mehr als safe haven für Terroristen fungieren kann, nach US-Angaben sind bisher 15.000 von ihnen im Irak unschädlich gemacht worden, getötet oder verhaftet - und keinerlei operative Schwächung ist eingetreten, im Gegenteil.

Aber bei allen katastrophalen Schwächen dieser Wahlen, es bleibt unbestreitbar, dass sie doch (Teil-)Ergebnisse von einer demokratischen Qualität zeitigen werden, die man in keinem anderen arabischen Land finden kann: Die kurdische Minderheit wird mit starker Stimme sprechen, und die Schiiten werden zum ersten Mal in einem arabischen Land gemäß ihrer Stärke - in diesem Fall sind sie eben die Mehrheit - die Macht übernehmen.

Ihrem Anteil entsprechend repräsentiert sind die Schiiten sonst nur im - syrisch dominierten - Libanon: In allen anderen arabischen Ländern sind sie politisch marginalisiert, wobei sie jedoch außer im Irak nur in Bahrein die Bevölkerungsmehrheit stellen. Aber schiitische Minderheiten gibt es auch in Kuwait (dreißig Prozent) und in Saudi-Arabien, dort sind es zwar nur zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, aber sie sind ausgerechnet in den erdölreichen Gebieten im Osten konzentriert. Dass sie aus dem Aufstieg der irakischen Schiiten Selbstbewusstsein ziehen werden, liegt auf der Hand.

David Hirst schreibt in der libanesischen Zeitung The Daily Star ganz richtig, dass die arabischen Regierungen die irakischen Wahlen aber nicht nur wegen der Schiitenfrage mit Sorge sehen: Es bedeutet auch, dass "der Irak jetzt zeigen wird, was Palästina schon gezeigt hat: Dass in der arabischen Welt die Menschen größere Wahlfreiheit haben, wenn sie besetzt sind, als wenn sie souverän sind."

Die "Ansteckungsgefahr" für die Nachbarn durch Wahlen im Irak sind indessen viel geringer, als die amerikanischen Neocon-Visionäre in die Wolken malten. Man frage etwa einen - auch einen mit seinem Regime unzufriedenen - Syrer oder einen Ägypter, was ihm lieber ist: das was der Irak heute durchmacht, oder was er gerade zu Hause hat. Solange das nackte Überleben dort nicht gesichert ist, ist es zynisch, vom Irak als Modell zu sprechen.