Regisseur und Intendant Hans Gratzer 2003: menschenfreundlicher Verführer, stilbewusster Erneuerer, verletzlich Werbender - eine unverzichtbare Theatergestalt in Wien.

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Jetzt ist er nach langem Kampf seiner Krebserkrankung erlegen.

Wiener Neustadt – Hans Gratzer, der am Mittwoch im engsten Kreise nahe Wiener Neustadt an den Folgen seiner Krebserkrankung gestorben ist, war für die am Fett ihres ranzig gewordenen Theaterruhmes würgende Kulturstadt Wien eine gleichsam mediterrane Gestalt: ein im Licht der Aufklärung gebadeter, hellauf strahlender, auf jedes Fundstück und alle Vorkommnisse neugieriger Impresario.

Das Schauspielhaus in der Porzellangasse, an dem die Straßenbahnen der Linie D mürrisch vorüberratterten, worauf der Verputz an den Gründerzeithäusern ein wenig mehr nachdunkelte und die Wiener noch verkniffener wurden, erstrahlte wie ein Varieté von Fellini. Wenn es jemanden gab, der einem das Vertrauen in den Anspruch des Theaters auf Zeitgenossenschaft zurückerstattete – der diese Zuversicht sogar im Voraus erlegte, als gäbe es das Gelingen der darstellenden Künste auf Kredit – so war dies ab den späten 70er-Jahren niemand Geringerer als Gratzer.

Ein Wiener Neustädter Arztsohn, der als gescheiterter Reinhardt-Seminarist die Mühsal der Moderne auf sich und auf die Schultern einer Gruppe Mitverschworener lud, machte mit neuen Stücken und Ausstattungstrends, mit kulinarischen Vorstadtpossen und materialistischen Denksportübungen jenen heiteren, oft auch kindlichen Ernst, der in den großen Anstalten längst zur Pflichtübung verkommen war.

Der Zuversichtliche

Man wird ihm nicht zum Vorwurf machen dürfen, dass seine Herangehensweise etwas pauschal blieb: So entdeckte er zu Anfang der 90er, als er nach einem Zwischenstopp in New York an das Schauspielhaus heimkehrte, im rasenden Heimatvernichter Werner Schwab den Modenschürzendichter. Aber ins gleißende Licht wohlwollender Aufmerksamkeit hat nur er ihn gehievt.

Man hat nie einen zuversichtlicheren Atlas gesehen: Als Gratzer in den 80ern die Stücke von Koltés, von Heiner Müller, von Botho Strauß, von Peter Handke, von Elfriede Jelinek wie Perlen vor ein staunendes Publikum warf, das sich daraufhin aufgeklärt und ergötzt fühlen durfte – dann hatte Gratzer die granitenen Stücken vorher zu schillernd goldglänzendem Staub zerrieben.

Sein völlig untrüglicher Geschmackssinn verhalf auch spröden Materialien zu bestechender, aufkratzender Form: Gratzer betrachtete schwärzeste Mysterien wie durch ein bunt gefärbtes Glas. Er importierte unbekümmert Sichtweisen und Behandlungsarten und griff das rohe Verklumpte, wild Gezackte mit der Filigranzange des fein abschmeckenden Apothekers an. Die Medizin für den unersättlichen Theaterhunger der Wiener blieb aber, in zwei cirka dezennienlangen Blüteperioden, in der Porzellangasse gehortet. Gratzer, an dessen Seite Maria Bill, Beatrice Frey, Michael Schottenberg oder Toni Böhm zu Stars wurden, liebte die Verständigungsart des kreativen Wohlwollens: Unvergesslich, als er Schauspieler bei den Proben dazu anhielt, ihre Rolle etwas mehr "lila" zu spielen oder sich im Wege der Einfühlung des Innenlebens eines "Wiener Schnitzels" zu erinnern.

Schwer zu sagen, wann (und ob) und wo Gratzer, dem verbindlichen Theaternarren, dem verletzlichen Gesprächspartner, Unrecht getan wurde. Tatsächlich bot er in den 80er-Jahren um die Intendanzen von Burg und Volkstheater mit – angestachelt von jenen Kulturpolitikern, die sich hierauf gegen ihn entschieden. Gratzer, der unübertroffene Werber, wollte seinerseits umworben sein. Das Prinzip des Ur-und Erstaufführungstheaters hielt er in den 90ern auch dann noch durch, als die goldgewirkten Stoffe zusehends fadenscheinig wurden. Seiner späten Berufung zum Josefstadt-Direktor 2003 ging ein unerquickliches kulturpolitisches Geplänkel voraus. Er scheiterte nach wenigen Monaten. Gratzer, der Großzügige, glich einem tragisch missverstehenden Onkel, der einer Schar lärmender Maturanten – und weitaus älteren Semestern – kindliche Herrlichkeiten und vorschulhafte Kleinodien zum Geschenk darbringt. Die Krebserkrankung tat ein Übriges: Er wurde geschasst. Sein Auftritt bei der Nestroy-Gala 2004, als er für sein Lebenswerk geehrt wurde, glich der pflichtschuldigen Abstattung einer ausständigen Devotion. Er wird als das sonnenstrahlende Kind, als der Magier der Porzellangasse unvergessen bleiben. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.01.2005)