Es ist ein Glücksfall, dass ausgerechnet der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker im ersten Halbjahr 2005 im Chefsessel Europas Platz nimmt. Juncker ist ein alter Hase auf dem EU-Parkett, er hat sich seinerzeit in Dublin als Geburtshelfer des Stabilitätspakts profiliert.

Dublin ist über acht Jahre her - nun steht Juncker als EU-Ratspräsident vor der diffizilen Aufgabe, die Geburtsfehler des Stabilitätspakts zu beheben. Dieser Reformprozess erfordert so viel ökonomisches Fingerspitzengefühl und diplomatisches Geschick, das wenigen außer Juncker zugetraut wird.

Sind doch die Details der Reformen umkämpft, wie der Beginn der Beratungen Montag in Brüssel zeigte: Während Euro-Schwergewichte wie Deutschland und Frankreich darauf bestehen, die Fesseln des Stabilitätspakts möglichst weit zu lockern, wollen Stabilitätshardliner wie Österreich und die Niederlande die Defizitgrenzen so eng wie möglich halten.

Junckers Vermittlungsaufgabe zwischen diesen Extrempositionen ist insofern kompliziert, als beide etwas für sich haben: Auf der einen Seite ist die Sorge berechtigt, dass jede Milde gerade von chronischen Defizitsündern sofort als Lizenz zum fröhlichen Schuldenmachen verstanden wird.

Die Kreativität mancher Staaten, die künftig von Rüstungs- bis Infrastrukturausgaben am liebsten alles aus dem Defizit herausrechnen würden, ist ein Beleg dafür.

Auf der anderen Seite zeigen die Erfahrungen mit dem Stabilitätspakt, dass seine starren Grenzen Wachstum eher behindern als fördern. Das Argument wiegt schwerer: Immerhin heißt der Stabilitäts- auch Wachstumspakt.

Er ist dem Namen aber nie gerecht geworden, im Gegenteil: Seine Strukturfehler sind für die europäische Wachstumsschwäche mitverantwortlich. Dürfen doch Staaten in Boomzeiten tun, was sie wollen - während sie in schwacher Konjunktur kaum Spielraum zum Gegensteuern haben.

Der Reformvorschlag von EU-Währungskommissar Joaquín Almunia ist ein vernünftiger Kompromissweg zwischen den Extrempositionen. Er will deutlich zwischen Konjunkturzyklen unterscheiden: In Boomzeiten sollen Staaten verpflichtet werden, Budgetüberschüsse anzuhäufen und gleichzeitig schmerzhafte Strukturreformen anzugehen.

Wer sich mit Reformen am Arbeitsmarkt- oder Pensionssektor zu lange Zeit lässt, dem droht ein Mahnbrief. Lautet doch das neue Motto: Stabilität kann nicht nur am Defizit gemessen werden.

Auch in Zeiten der Konjunkturflaute soll das Prinzip gelten, dass Wirtschaftspolitik nicht nur aus Kommastellen besteht. So will man die Gründe für ein Überschreiten der Drei-Prozent-Defizitmarke genau analysieren, anstatt stur Stufe für Stufe die Sanktionsmechanismen des Stabilitätspakts auszulösen.

Dieser Ansatz ist so vernünftig wie alternativlos. Denn das Regelwerk besteht zwar noch auf dem Papier, ist in der Praxis aber Makulatur: Paris und Berlin haben schon 2003 in Eigenregie Strafsanktionen wegen Defizitverstößen verhindert. Als logische Konsequenz bekam auch Italien keinen Warnbrief - mit der originellen Begründung, dass Wahlen anstehen.

Bevor auch Schlechtwetter als Ausrede gilt, tut die EU besser daran, gleich weniger sture Regeln aufzustellen - die dafür befolgt werden. Denn spätestens seit die Ausnahmen von den Defizitsanktionen die Regel werden und die Gruppe der Defizitsünder größer ist als die der Defizitheiligen, ist der Stabilitätspakt in seiner derzeitigen Form tot.

Auch verbale Sparefrohs wie Karl-Heinz Grasser sollten einsehen, dass eine Reform des Paktes unumgänglich ist, um ihn wiederzubeleben. Juncker wird Überzeugungsarbeit leisten - damit er das zweite Ziel seiner EU-Präsidentschaft erreicht: dem Lissabon- Ziel, das die EU zum weltweit führenden Wirtschaftsraum machen will, zumindest näher zu kommen.

Bisher schwächelt Europa den USA hinterher. Um das zu ändern, braucht es keinen starren Stabilitätspakt. Sondern einen modernen Wachstumspakt, der den Namen auch verdient. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18.01.2005)