Grafik: STANDARD

Dass sich in der Erdkruste vor Sumatra eine explosive Spannung aufgebaut hatte, war bekannt. Entsprechende Warnungen wurden jedoch ignoriert. Eine neue tektonische Weltkarte zeigt weitere Gefahrenzonen.

Das Seebeben vor Sumatra kam nicht überraschend. Das zeigt die "Weltkarte der tektonischen Spannungen", die Forscher der Uni Karlsruhe im Fachmagazin Eos veröffentlichten. Die Karte zeigt die Gesteinsspannung an 13.600 Orten. Jeden dieser Orte haben Geophysiker um Birgit Müller und Oliver Heidbach mit einem Strich markiert, der die Richtung der wirkenden Kräfte anzeigt. Vor Indonesien stehen alle Linien senkrecht zum Land – ein Beleg dafür, dass sich in dieser Richtung die Indisch-Australische Erdplatte unter die Eurasische Platte schiebt.

Die Karte selbst ist zwar neu, nicht jedoch das Wissen um die tektonischen Spannungsfelder, besonders um jenes vor Sumatra. Doch trotz Warnungen verzichten die nun betroffenen Staaten auf die Errichtung eines Frühwarnsystems – und nicht nur die. Außer für die Pazifikregion gibt es kein Überwachungsnetz. Was angesichts der neuen Karte eine grobe Fahrlässigkeit darstellt.

Ein Mosaik etwa hundert Kilometer dicker Gesteinsblöcke bildet die Erdoberfläche. Die Erdplatten rutschen, von zähflüssigem Gestein geschoben, wenige Zentimeter pro Jahr voran. Blaue Striche auf der Karte bedeuten, dass sich Erdschichten übereinander schieben, rote zeigen durch Dehnung hervorgerufene Spannung, grüne Linien belegen, dass Gesteinsblöcke aneinander vorbeischrammen.

Der Druck der Erdplatten ist gewaltig: Die Karte zeigt, dass der Zusammenstoß der Erdplatten die Spannung im Gestein noch im Inneren der Kontinente bestimmt – weit abseits der Plattengrenzen. In Europa wirkt sich bis weit nach Norden der Druck Afrikas aus, das sich mit zwei Zentimetern pro Jahr nach Norden schiebt. In der Knautschzone türmen sich die Alpen. Das Gebirge verzehrt die Aufprallenergie aber nicht vollständig. So machen sich auch nördlich der Alpen die Kollisionskräfte aus dem Süden bemerkbar.

Südosteuropa hingegen steht unter dem Einfluss der kleinen Anatolischen Platte, die zwischen der Afrikanischen und der Europäischen Platte wie in einem Schraubstock nach Westen gedrückt wird – die Spannungslinien zeigen in ostwestliche Richtungen. Entlang der Nordanatolischen Verwerfung haben Erdbeben in den vergangenen 63 Jahren den Druck abgebaut. Jetzt verharrt einzig ihr westliches Ende im höchsten Spannungszustand: die 160 Kilometer lange Marmara-Sektion südlich von Istanbul.

Eine der vermeintlich spannungsgeladensten Nahtstellen der Erdkruste durchzieht Kalifornien – die San-Andreas-Verwerfung. Sie entpuppt sich auf der Karte jedoch als vergleichsweise zahm. "Bei der San-Andreas-Verwerfung handelt es sich um eine Störungszone mit geringer Reibung", erklärt Müller. Das zeigten die fast senkrecht zur Verwerfung stehenden Spannungslinien: In Bewegungsrichtung der Platten ist die Spannung folglich relativ klein. Warum es dort trotzdem immer wieder zu schweren Erdbeben kommt, soll eine laufende Bohrung durch die Plattengrenze klären. (DER STANDARD; Printausgabe, 5./6.1.2005)