Juri Andropow hatte 15 Jahre lang den sowjetischen Geheimdienst KGB geleitet, als er 1982 Parteichef wurde. Wie kein anderer kannte er die wahren Verhältnisse im Land. Er wusste, dass das System ohne Reformen nicht überleben konnte, und baute den relativ jungen Michail Gorbatschow als seinen Nachfolger auf. Nach Andropows Tod 1984 bäumte sich die alte Garde mit der Wahl Konstantin Tschernenkos zum Parteichef noch einmal kurz auf, aber dann war Gorbatschow an der Reihe. Die von ihm eingeleiteten Reformen waren jedoch zu halbherzig und kamen letztlich auch zu spät, als dass sie die Sowjetunion noch hätten retten können.

Der heutige Kreml-Chef Wladimir Putin will Russland zu neuer Größe führen, wobei ihm die Sowjetunion durchaus Vorbild ist. Die als "nahes Ausland" umschriebenen ehemaligen Sowjetrepubliken in Europa, im Kaukasus und in Zentralasien sind sozusagen natürliche Einflusszone. Der Ukraine kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Mit der klaren Parteinahme für den prorussischen Präsidentschaftskandidaten Viktor Janukowitsch hat sich Putin vor und auch noch nach den Wahlen, als die massive Fälschung schon offenkundig war, sehr weit hinausgelehnt. Umso blamabler ist die Niederlage, die er mit der von der Oppositionsbewegung erzwungenen Wahlwiederholung erlitten hat. Inzwischen versucht Putin sein Gesicht zu wahren, indem er plötzlich über eine Aufnahme der Ukraine in die EU "froh wäre".

Dass Putin eine friedliche Demokratiebewegung in einem anderen Land quasi als Angriff des Westens auf Russland empfindet oder zumindest so darstellt, kann eigentlich nur Leute wie den deutschen Kanzler Gerhard Schröder erstaunen, die im Kreml- Chef einen "lupenreinen Demokraten" sehen. Es sagt jedenfalls sehr viel über die Rolle, die Putin dem Bürger im Staat zuweist.

Wirklich verblüffend ist aber etwas anderes: die schwere Fehleinschätzung der wahren Situation in der Ukraine. Die zeigte sich auch darin, dass russische Spitzenpolitiker wie der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow nach der Wahl öffentlich die Ostukrainer zur Abspaltung ermunterten. Inzwischen verdeutlicht eine repräsentative Umfrage des Kiewer Instituts Socis, dass eine massive Mehrheit der Ukrainer - knapp 72 Prozent - die Autonomiepläne östlicher Regionen ablehnt.

Moskau hat die Lage in der Ukraine also auf der ganzen Linie falsch beurteilt. Das wirft mehrere Fragen auf. Wurde der einstige Geheimdienstchef Putin von seinen Leuten im Sicherheitsapparat, den so genannten Silowiki, falsch informiert? Und wenn ja, basierten diese Fehlinformationen auf schlechter Geheimdienstarbeit? Wurde die Kreml-Spitze womöglich sogar gezielt desinformiert? Oder wagte einfach niemand, Putin die wahre Situation zu schil^dern oder zumindest vor voreiligen Festlegungen zu warnen? Oder ist das Ganze einfach "passiert", aus einer Mischung von Inkompetenz, bürokratischen Behinderungen und Rivalitäten zwischen verschiedenen Seilschaften im russischen Geheimdienstapparat? Ähnliches wurde ja schon im Zusammenhang mit dem Geiseldrama von Beslan vermutet, wo es deutliche Hinweise auf einen geplanten Anschlag gegeben hatte.

Keine der Deutungsversionen ist jedenfalls günstig für Putin - einmal abgesehen von seiner offensichtlich antidemokratischen Grundhaltung. Wenn der riesige Sicherheitsapparat, Putins ureigene Domäne, in einem für Russland angeblich lebenswichtigen Fall versagt, wie verhält es sich dann mit seiner Effizienz im eigenen Land? Wie kann Putin dann darauf vertrauen, dass seine auf Stärkung der Staatsmacht basierenden "Reformen" greifen werden?

Aber vielleicht ist er ja doch lernfähig und zieht Lehren aus seinem ukrainischen Debakel. Etwa jene, dass auf engagierte Bürger mehr Verlass ist als auf angebliche Geheimdienstprofis. Mit dieser Einsicht könnte er selbst den Friedensnobelpreisträger Gorbatschow in den Schatten stellen. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.12.2004)