Staatschef Chirac ist persönlich klar für den EU-Beitritt der Türkei. Seine Regierungspartei, die "Union für eine Volksbewegung" (UMP) ist jedoch dagegen. Dies gilt auch für seinen internen Nebenbuhler, UMP-Chef Nicolas Sarkozy. Und für die Mehrheit der französischen Bevölkerung. Laut der konservativen Zeitung Le Figaro lehnen 67 Prozent der Franzosen den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union – vor allem wegen Menschenrechtsver-‑ letzungen und kulturellen Unterschieden – ab. Chirac kündigte im November eine Volksabstimmung vor dem effektiven Beitritt der Türkei an – also in etwa zehn oder fünfzehn Jahren, wenn er selbst nicht mehr im Elysée-Palast herrscht.

Dies genügte aber nicht, um die Wogen zu glätten. Gestern trat er deshalb vor das Fernsehpublikum, um den Franzosen die "Ängste" vor einer Aufnahme von 70 Millionen Türken in die EU zu nehmen. "Die Idee eines geografisch begrenzten Europa macht keinen Sinn, denn wir sind alle Kinder von Byzanz", meinte der Staatschef.

Chirac machte klar, dass ein Beitritt der Türkei nicht "automatisch" erfolgen werde. Deshalb schickte er diese Woche schon Außenminister Michel Barnier vor. Der treue Gefolgsmann des Präsidenten erklärte überraschend, Ankara müsse vor einem EU-Beitritt den Genozid am armenischen Volk zu Beginn des Ersten Weltkrieges anerkennen. Damals kamen zwischen 600.000 und einer Million Armenier durch türkische Verfolgungen um; Ankara weist den Begriff Völkermord aber bis heute heftig zurück.

Auffällig ist, dass erstmals ein französischer Chefdiplomat in diesem Zusammenhang das Wort "Völkermord" in den Mund nimmt. Die französische Nationalversammlung hatte den Genozid schon 2001 offiziell anerkannt. Die Wochenzeitschrift L'Express verweist auch auf einen neuen Paragrafen im türkischen Strafrecht, der ähnliche Ereignisse als Völkermord einstuft und mit Haftstrafen von bis zu zehn Jahren belegt.

Trotz der neuen Forderungen wird sich Paris am EU- Gipfel am Freitag nicht gegen die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen stemmen. Barnier meinte aber, er sei in Bezug auf die zukünftigen Verhandlungen für eine "Sprache der Wahrheit" gegenüber Ankara.

Der Grüne Daniel Cohn- Bendit erwiderte, es sei fragwürdig, dass die Europäer erst jetzt zu dieser Einsicht kämen, nachdem sie gegenüber Ankara "vierzig Jahre lang mit dem Schwanz gewedelt" hätten. Verständlich, dass die Türken laut neuesten Umfragen das Gefühl haben, von der EU "unfair" behandelt zu werden. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.12.2004)