Die Menschen von Paris und Berlin bis Budapest und Warschau schauen voller Bewunderung auf die dramatischen Vorgänge in Kiew und die mutigen Ukrainer, die gegen ein durch und durch korruptes System der postkommunistischen Oligarchie auf die Straße gehen.

 

Nach wie vor sind drei Szenarien möglich: a) vorläufiges Einlenken der Machthaber in Kiew (und Moskau!) gegen Konzessionen, wie zum Beispiel eine Amnestie für Präsident Leonid Kutschma und Garantien für die Sicherung der russischen Wirtschafts- und Machtinteressen; b) Verschleppungs- und Ablenkungstaktik; Machtpoker ohne Ende bei zunehmender Instabilität im Lande; und c) spontane oder möglicherweise von langer Hand vorbereitete bzw. provozierte Gewalt, die schnell zu einer blutigen Eskalation mit offener oder verschleierter russischen Intervention, vor allem im Osten führen könnte.

In den westlichen Regierungskanzleien stiftet allerdings die Tatsache, dass die so lange "abgeschriebenen" Ukrainer ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen wollen, nicht nur Sympathie, sondern - so wie vor einem Vierteljahrhundert beim Geburt der polnischen Solidarnosc - auch Verwirrung und Angst. Soll man die vermeintliche strategische Partnerschaft mit Russland wegen der Anerkennung des Rechts der 50 Millionen Ukrainer (so groß ist wie Frankreich) auf Selbstbestimmung, Demokratie und Menschenwürde infrage stellen?

Der Doyen der wenigen echten (und nicht frisch gebackenen!) Ukraine-Experten, Bohdan Osadczuk (Alexander Korab), beschuldigte dieser Tage in einem leidenschaftlichen Aufsatz die EU-Politiker, sie hätten die Demokratie in der Ukraine verraten und sie seien Totengräber der nach dem Sieg im Kalten Krieg erreichten Chance gewesen, den Wiederaufstieg des russischen Imperiums zu verhindern. Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac wollten ihre Beziehungen mit dem "lupenreinen Demokraten" Putin (so Schröder in einer deutschen TV-Talkshow) nicht gefährden. Der Menschenrechtler und einstige Sacharow-Freund Sergej Kowaljow meint, es sei nicht nur falsch, sondern gefährlich, dass Schröder Menschenrechte und Demokratie vermeintlichen Geschäftsinteressen opfere.

Auch der polnische Diplomat Jaromir Sokolowski geißelte die "indirekte Komplizenschaft" Schröders mit Putin. Man muss die Grundfrage klar sehen: In der Ukraine geht es nicht um eine Wahl zwischen dem Westen und dem Osten, sondern zwischen offener Demokratie und autoritärer Herrschaft. Das Symbol des Aufbruchs, Viktor Juschtschenko, ist kein antirussischer Rebell, sondern ein vorsichtiger Reformer (er leitete sieben Jahre die Nationalbank). Dass man ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vergiften wollte (nach der Ermordung seines Gönners Vadim Hetman und des systemkritischen Journalisten Georgi Gongadze), zeigt, dass Kutschmas korruptes, brutales Oligarchenregime bereit ist, die Gegner mit allen Mitteln zu bekämpfen.

Ein in Kiew lebender russischer Schriftsteller, Andrej Kurkow, warnte kürzlich, Russland werde die Ukraine nicht nach Europa gehen lassen. Nach dem sattsam bekannten KGB-Skript läuft die Moskauer Propagandamaschine auf Hochtouren: westliche Einkreisung, Unterwanderung, Verschwörung. Innere Verhärtung und offene Einmischung in der Ukraine sind deutliche Warnzeichen. Es geht auch um die Zukunft Russlands und der Ost-West-Beziehungen. Nur wenige Beobachter sind so "fest davon überzeugt" wie Schröder, dass "Putin Russland aus innerer Überzeugung zu einer Demokratie entwickeln will". Aber die Würfel in der Ukraine sind noch nicht gefallen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9. Dezember 2004)