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ÖsterreicherInnen ziehen kritische EU-Bilanz.

Grafik: APA
Wien - Mit der überwältigenden Mehrheit von knapp 67 Prozent stimmten die Österreicher 1994 für den Beitritt zur EU. Zehn Jahre später fanden im heurigen Sommer gerade 42 Prozent den Weg zu den Abstimmungslokalen für die Wahlen zum Europäischen Parlament - und 14 Prozent davon entschieden sich auch noch für die EU-kritische Liste Hans Peter Martin. Wie konnte das passieren? Diese Frage stellten sich zwei Soziologen der Universitäten Wien und Graz und machten sie zum Thema ihrer Forschungen. Das Ergebnis der Untersuchungen lautet kurz zusammengefasst: Herr und Frau Österreicher sind der festen Überzeugung, dass sich für sie in zehn Jahren EU-Mitgliedschaft fast alles verschlechtert hat.

Der Soziologe Max Haller von der Karl-Franzens-Universität Graz und sein Kollege von der Universität Wien, Wolfgang Schulz, führten unabhängig voneinander zu Beginn des vergangenen und des heurigen Jahres repräsentative Umfragen durch, um zu ergründen, welches Resümee die Österreicher aus der EU-Mitgliedschaft ziehen. Eine, gleichwohl verkürzte, Conclusio lautet: Es gibt viel mehr zu kaufen - aber wir können es uns nicht mehr leisten. Während die Befragten nämlich das vergrößerte Warenangebot, neben Reise-Erleichterungen und besseren Bildungschancen, als eines der ganz wenigen Positiva der EU-Integration betrachten, sind sie ziemlich einhellig der Meinung, dass seit dem EU-Beitritt die Preise für Güter des täglichen Bedarfs gründlich gestiegen sind.

Verschlechterungen bei sozialen Standards

Ähnlich übereinstimmend meinen die insgesamt 2.300 Befragten der Grazer und Wiener Studien, dass die EU-Integration Österreichs deutliche Verschlechterungen bei sozialen Standards und der Qualitätssicherung bei Lebensmitteln gebracht haben. Ähnlich vernichtend wie das Urteil über die Preisentwicklung ist auch die Einschätzung, was sich denn in den Fragen Transitverkehr, Arbeitslosigkeit und Kriminalität getan habe: Die überwältigende Mehrheit - 73 bis 82 Prozent - meint, das sich hier vieles, wenn nicht alles zum Schlechteren geändert hat.

Die Wissenschafter warnen nun vor der Verlockung, diese Ergebnisse damit abzutun, die Bevölkerung sehe Nachteile viel stärker, als sie wirklich sind, und unterschätzten die positiven Aspekte der EU-Mitgliedschaft. Die faktische Entwicklung im Land zeigt für sie deutlich, "dass die Einschätzungen der Bürger alles andere als realitätsfern zu bezeichnen sind". So zeige sich etwa, das das durchschnittliche Bruttoeinkommen von Arbeitern und Angestellten zwischen 1993 und 2002 von 1.460 auf 1.650 Euro gestiegen, das inflationsbereinigte Einkommen mit 1.398 Euro in diesem Zeitraum aber tatsächlich gesunken sei. Auch betrage der faktische Preisanstieg von 1996 bis 2003 immerhin 5,7 Prozent, womit die Bevölkerung also auch hier "nicht ganz falsch liegen" dürfte, wie die Sozialforscher meinen. Auch die Kleinkriminalität, oft in Zusammenhang mit Drogenhandel, sei seit Mitte der 80er Jahre tatsächlich gestiegen. Und das praktisch ersatzlose Auslaufen des Transitvertrages ist, verglichen mit dem Beitrittsargument, Österreich könne in der EU mehr erreichen als von draußen, nach den Erkenntnissen der Soziologen ohnehin "die mit Abstand eindeutigste Misserfolgsgeschichte".

Die Wissenschafter beteuern, nicht alle ungünstigen Entwicklungen seien dem EU-Beitritt zuzuschreiben, manches sei durch die Ostöffnung, anderes "stark durch einseitige Haltungen der Boulevardpresse" begründet. Letztlich ergibt sich für Haller und Schulz aber eine klare Konsequenz aus den von ihnen erhobenen Daten: "Gerade kontraproduktiv scheint es zu sein, nur die positiven Erfolge der EU hervorzuheben, die negativen jedoch zu verschweigen oder zu versuchen, sie in positive umzudeuten." Genauso wenig dürfe der Integrationsprozess nur unter rein ökonomischen Aspekten gesehen werden: "Je mehr das geschieht, desto weniger glaubwürdig werden die EU und ihre nationalen Proponenten." (APA)