Dem europäischen Projekt fehle es an emotionaler Bindekraft, heißt es gemeinhin. In der neuen EU-Kommission soll ein eigenes Mitglied im Rang einer Vizepräsidentin dafür sorgen, dass die europäische Sache besser verkauft wird.

Die hunderttausenden, meist jungen Leute, die in der Ukraine schon die zweite Woche gegen den offenkundigen Wahlbetrug demonstrieren, haben kein Problem mit Europa. Sie fühlen sich dazugehörig. Und das bedeutet für sie ganz einfach: Demokratie als Respekt vor dem Willen des Volkes, Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, Zivilcourage.

Damit erteilen die ukrainischen Europäer den Kleinmütigen, Skeptikern und Pessimisten in der EU eine beeindruckende Lektion. Aber die Reaktion scheint nicht so auszufallen, wie sie es sich erwünschen und verdient haben.

Während sich der EU-Außenbeauftragte in Kiew um Vermittlung bemüht, betreiben Frankreich und Deutschland, die angeblichen Motoren des europäischen Projekts, Realpolitik entsprechend ihren Interessen. Und die lauten: Rücksichtnahme auf Russland.

Vor allem Frankreich vermeidet jede grundsätzliche Stellungnahme zu den Ereignissen in der Ukraine. Jenes Frankreich, das sich im Fall Irak zum moralischen Führer der Kriegsgegner ernannte und dessen Präsident den neuen EU-Mitgliedern, die sich an die Seite der USA stellten, nachhaltig empfahl, den Mund zu halten.

Man wolle Moskau nicht "provozieren", heißt es jetzt in Paris. Nichts gegen abwägende Realpolitik und kluges Verhalten in heiklen geopolitischen Situationen. Aber diese vorauseilende Rücksichtnahme auf ein neuerdings wieder hegemonial auftretendes Russland ist ihrerseits eine Provokation - für alle, denen Europa mehr bedeutet als eine Hülle ohne Inhalt. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.12.2004)