Die MSC Lirica

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Der kleine Fitnessraum ist gedrängt voll. Michael Jacksons "Thriller" dröhnt in voller Lautstärke. Kein Wunder, dass da sprichwörtlich Tote erwachen. Sechzig und mehr Jahre haben die turnwilligen Damen locker auf dem Buckel, aber fit sind sie, als hätten sie Jane Fonda vor vielen, vielen Jahren persönlich beim Erfinden des Aerobic zur Seite gestanden. Noch spektakulärer ist es vorne, auf den Rädern, auf dem Laufband. Der Blick schweift aufs offene Meer. Fast ist es, als würde man den Riesentanker, der immerhin 253 Meter lang ist, mit eigener Muskelkraft antreiben. Volle Kraft voraus!

Das Leben auf einem Kreuzschiff ist gemütlich. Wenn die See ruhig ist, ist der Whirlpool an Deck voll, und auf den blauen Liegestühlen lungern entspannte Menschen herum. Warum der Fitnessraum trotzdem so beliebt ist, liegt nicht nur an der schönen Aussicht, sondern an der reichlichen Verpflegung.

Eine Reise mit einem Kreuzschiff heißt nämlich vor allem eines: cruisen, und zwar von einem Sechs-Gänge-Menü zum nächsten Buffet (das letzte um Mitternacht am Pool). Auf zwei Passagiere kommt ein Bediensteter, was dazu führt, dass jemand eigens dafür zuständig ist, Brotkrümel diskret vom Tisch verschwinden zu lassen.

1000 Kilo Huhn werden wir nach einer Woche verdrückt haben, 15.000 Stück Eier und 500 Kilo Butter. "Mit zwei bis drei Kilo pro Woche an Mehrgewicht muss man schon rechnen", erklärt Dr. Dean Jovicevic, der Schiffsarzt des italienischen Cruisers MSC Lirica. Der Mann ist ein Doktor, wie man sich ihn wünscht: melancholisch und kunstsinnig. Auch diesmal bleibt ihm viel Zeit zum Lesen. Unsere Reise von Bodrum über die griechischen Inseln Santorin, Mykonos nach Athen und Venedig verläuft ohne Zwischenfälle (bis auf ein paar Magenverstimmungen), aber verglichen mit so manchen Schiffen in den USA sind wir auch rüstig. Zwischen 80 und 100 ist man dort, und von vornherein nicht gerade schlank, erzählt der Arzt. Im äußersten Notfall ist für zwei Tote Platz (tief unten lagern zwei Kühlschränke). Das sind die dunklen Geheimnisse eines Schiffes.

Unser schwimmendes Hotel ist wie ein kleines Hochhaus. Im Hafen von Piräus sehen wir auf die kleinen Autos hinunter und den Menschen in ihre Wohnungen im zehnten Stock. Manchmal vergisst man aber auch einfach, dass man auf See ist, und kommt sich wie in einem gediegenen Hotel im Las Vegas-Stil (natürlich gibt es ein Spielcasino) vor.

Anstrengend können Landgänge werden. Hunderte von Neugierigen fallen wie Heuschrecken über eine kleine Insel her. Und plötzlich liegen vermeintlicher Exklusivurlaub und gewöhnlicher Massentourismus ganz nahe beisammen.

1530 Passagiere fasst die MSC Lirica, aber einsame und menschenleere Orte findet man trotzdem - die Disco mit ihren mintgrünen Stühlen tagsüber. Dort ist die Lirica wie ein Geisterschiff.

Anders als im "Traumschiff" ist es jedenfalls. In Wirklichkeit haben es allein stehende Pensionistinnen nämlich verdammt schwer, wie eine Dame aus München erzählt: "Ich sag' immer gleich dazu, ich will nichts von ihrem Mann, sonst regnet es böse Blicke der Frauen." Schiffsunglücke sind beliebter Gesprächsstoff. Beim Abendessen werden genüsslich "Titanic-Szenarien" ausgebreitet. Die Tatsache, dass man seit dem 11. September nur in Ausnahmefällen auf die Kommandobrücke darf, beschäftigt auch alle. Neugierig ist ein Tischnachbar allerdings darauf, wie das gehen soll: ein Schiff entführen und dann in einen Wolkenkratzer lenken. Auf einem Kreuzschiff wird man schnell makaber. Es gibt ja sonst nichts zu tun - außer essen. (Der Standard/rondo/26/11/2004)