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Eine Einstimmung auf den Día de los Muertos

Foto: Archiv

Österreich und Mexiko sind verbunden, das reicht von der Erschießung Maximilians über den mexikanischen Protest gegen die Annexion Österreichs durch Nazideutschland bis zum geraubten Häuptlingsschmuck. Und in beiden Ländern gibt es ein seltsames Faible für den Tod, eine Sepulkralkultur. So ist es nicht verwunderlich, dass jährlich Österreicher nach Mexiko pilgern, dort den Día de los Muertos, den Tag der Toten, zu erleben.

Mexiko City ist träge wie Wien, nur größer. Eine Riesenstadt, nicht aufzuhalten, ein sich stetig vermehrender urbaner Grießbrei – nur mit Betonquadern statt der Grießkörner. Nachts vom Flugzeug aus gleicht sie einem größenwahnsinnigen Diadem, tagsüber einer Metropole ebenso wie einer Mistg'stätten. Seit den 40er-Jahren hat sich die Einwohnerzahl verzehnfacht.

Und sie wächst noch weiter, ist dem aber nicht gewachsen: Staus, schlechte Luft, Atemwegserkrankungen in allen Kehlen. Mexiko City ist heiß, gefährlich. So hat man uns gewarnt, keinesfalls in die grünen Käfertaxen einzusteigen, da passiert zu viel. Überfälle, Entführungen.

Nun hat mich das Grün der Käfer aber an die deutschen Polizeiautos der 70er-Jahre, an Walter Sedlmayr und alte Tatorte erinnert, waren die angeblich sicheren, weißen Taxen ohnehin nicht zu bekommen, blieben also nur die Käfer.

Egal, ich war ja nicht zum Umgebrachtwerden hier, sondern um den Día de los Muertos zu erleben. Bei so viel Tod und Toten, dachte ich, wird nichts passieren. Gegen Montezumas Rache hing ich mir einen Rosenkranz aus Kohletabletten um den Hals und außerdem klammerte ich mich daran, dass auch in sämtlichen amerikanischen Gangsterfilmen die Bankräuber stets nach Mexiko wollten.

Auf Empfehlung eines Käfertaxifahrers sahen wir zur Einstimmung auf den Tag der Toten eine hochritualisierte, ungeheuer populäre Schlachtung namens Stierkampf, wo zwar theoretisch der Mensch mit seinem Schatten kämpft, mit dem Instinkt, das Hirn dem Trieb entgegentritt – und besiegt, man praktisch aber Hinrichtungen beiwohnt, einen jungen Stier verbluten sieht.

In Mexiko, wo die Fernseh-Morgennachrichten von einem Clown verlesen werden, man die Jungfrau Guadelupe verehrt, deren Umriss durchaus, wenn man erotomanisch ist, einer weiblichen Scham entspricht, im bunten Mexiko also gibt es auch die Mariachi, Heiratssänger, die den Verliebten ein Cucurrucucu, Paloma oder La Cucaracha singen.

Am beeindruckendsten ist deren Treiben auf der Piazza Garibaldi, wo es zugeht wie in einem Taubenschlag, einem lateinamerikanischen Musikantenstadel. Es gibt dort auch einen anderen, höchst seltsamen Brauch: ein bisserl Tod zum Kosten. Tokes, Tokes schreiende Bauchladenverkäufer. Zuerst denkt man, die bieten Zigaretten an, dann sieht man Metallgriffe, die sie eisern gegeneinander schlagen und einem mit süffisanten Grinsen schmackhaft machen wollen. Diese mexikanischen Tokes-Tokes-Tandler verkaufen aber keine Knöpfe und auch keine Zigaretten, sondern Stromschläge. Jawohl, Stromschläge!

Für zwei, drei Dollar drücken sie einem die Metallgriffe in die Hand und jagen lächelnd 80, 90, 120 Volt durch einen durch. Wozu? Nicht einmal die Mexikaner wissen es, ein Männlichkeitsbeweis. Wahrscheinlich entstammt dieser ins eigene Fleisch gewandte Hau-den-Lukas einer Zeit, wo man noch an die Heilkraft und potenzsteigernde Wirkung der Stromstöße glaubte. Franz Anton Mesmer lässt grüßen. Nun singen also allabendlich die Mariachi auf der Piazza Garibaldi, tanzen Verliebte und Mädchen, während sich die Männer beim Machometer Mexicana einen Stromstoß verpassen lassen, sich dabei selber feiern.

Oft hat man in Mexico City, das auf alten Städten errichtet und von Vulkanen flankiert ist, das Gefühl, auch die Menschen hätten vulkanische Energie, würden bald ausbrechen. Aber nicht alle Bräuche sind so paradox wie die Tokes. Zu Allerheiligen etwa erwartet man die Toten, geht auf Friedhöfe und feiert. Bereits ab Mitte Oktober gibt es Knochenbrot und bunt glacierte Zuckertotenköpfe. Der Tod ist dann omnipräsent, überall Spielzeug mit Skeletten, Pappsärge, satirische Zeichnungen mit Skeletten, so genannte Calaveras, Totenkopflutscher, usw. Überall hängen die bunten mit Todesmotiven gelöcherten

Seidenpapiere, deren Windspiel die Ankunft der Toten zeigt. Keine Auslage, in der nicht mit bunter Zuckerglasur beschriftete Schokolade-Totenköpfe liegen, Schädel und Skelette überall. Als Europäer bekommt man etwas Angst, so viel Tod ist unheimlich, das Knochenbrot schmeckt ranzig, und auch die Zuckergussschädel haben einen bitter-süßen Beigeschmack. Die Mexikaner aber verehren ihn, den Tod, als Heiligen, der die Erlösung bringt, auch die Toten sind ja nicht für immer weg, zu Allerheiligen kehren sie wieder, kehren ein.

Kein Restaurant oder Supermarkt, in dem nicht ein Altar für einen Toten steht. An der Uni einer für Che und einer für Zapata, in Frida Kahlos Geburtshaus einer für sie und Diego Rivera, zwei Straßen weiter einer für Leo Trotzki. Am Zocalo, dem drittgrößten Platz der Welt, haben die Provinzen orange Riesenaltäre aufgebaut, und im Fernsehen wird tagelang über das Arrangieren der Hausaltäre, dieser Tischdekoration für Tote, diskutiert.

Jedes Fest hat in Mexiko auch seine Blume, zum Totenfest ist es die Cempadúchil-Blüte, ein hortensienartiger Knödel, der alles in grellem Orange erstrahlen lässt. Nicht nur die Straßen sind damit gesäumt, auch die Wohnungen und Häuser. Oft sind ganze Wege mit orangen Blütenblättern ausgelegt, damit die Toten auch nach Hause finden. Geht man aber als Fremder einer solchen Blütenstraße nach, wird man an ihrem Ende, wo sich nicht nur die Angehörigen, sondern oft auch riesige Totentafeln finden, herzlich eingeladen und bewirtet, als wäre man ein alter, bester Freund. Die Cempadúchil-Blüte dominiert auch die Altäre. Bunte, überbordende Totentische, auf denen wie in einer Arbeit von Daniel Spörri Speisen und Getränke stehen – alles das, was der Verstorbene liebte: Bier, Tequila, Humitas, Mole negro, Tortillas, Tacos, Merengues, Kaffee, etc. Man glaubt, dass am 2. November die Toten für einen Tag zurückkommen und sich an diesen Gaben laben. Natürlich bleiben alle Speisen und Getränke scheinbar unberührt, aber es ist die Seele, die davon konsumiert – und das, sagen die Mexikaner, spürt man, denn die Seelen entziehen den Opfergaben den Geschmack.

Damit die Toten, wenn sie kommen, daheim auch ihre Ruhe haben, verbringen die Angehörigen Allerseelen am Friedhof. Richtige Familienfeste finden da, bei den bunt bemalten oder gekachelten Grabsteinen, statt. Mariachi ziehen von Grab zu Grab und heizen stimmungsmäßig ein. Überall Girlanden, Seidenpapier, alles bunt geschmückt, Böllerschüsse umhüllen den ganzen Tag. Um die Friedhöfe ist Kirtag, Stände, wo es Grillwürste, Tacos oder gekochte Hühnerfüße mit Tabasco Sauce gibt. Ein buntes, fröhliches Fest, ein intensiver, heiterer Umgang mit dem Tod, ein Erntedankfest auf mexikanisch.

Vielleicht stammt dieser Toten-Kult aus einer Zeit, wo die Azteken auf den Pyramiden ihren Opfern die Herzen aus den lebendigen Leibern schnitten, um damit den Sonnengott zu speisen. Einer Zeit, wo auch der göttliche Fußball erfunden worden ist, bei dem die Sieger, ja, die Sieger, den Göttern geopfert worden sind, weil man Göttern ja keine Verlierer kredenzen kann.

Vielleicht ist es bei uns nicht anders, sind auch unsere Sieger Opfer für die Götter? Vielleicht daher die freiwilligen Tokes-Stromstöße? Wozu sonst? Gegen das Biertrinken-Müssen beim Fliegen nützen Tokes nämlich nichts. Und auch den Einzug von Halloween samt Kürbislaternen und Hexenhut, die sogar den Día de los Muertos amerikanisieren, können sie nicht aufhalten. Wenn man also das Totenfest auf mexikanisch mit Zuckergussschädeln, Knochenbrot, Mariachi und Tokes erleben will, muss man sich beeilen, in manchen Supermärkten nämlich liegen die Halloween-Utensilien wie zur Drohung schon bereit – und auch die grünen Taxen sterben eines Tages aus.(Der Standard/rondo/29/10/2004)