Anfang April 1876 wandte sich ein junger Franzose Hilfe suchend an die Wiener Polizei. Ein räuberischer Droschkenkutscher hatte Erschöpfung und Rausch seines Fahrgasts ausgenutzt, ihm die Barschaft von 1000 Francs ebenso wie das Reisegepäck, Hut, Mantel und Papiere abgenommen und den Fremden dann hilflos auf der Straße liegen lassen. Nach einigem Hin und Her wurde der Reisende an die deutsche Grenze gebracht und ausgewiesen. Von einem Bundesland zum anderen expediert, wanderte er schließlich von Straßburg aus zurück in seine Heimat, das Städtchen Charleville in den Ardennen.

Bei dem in Wien so kläglich Gestrandeten handelte es sich um den 21-jährigen Arthur Rimbaud, einen damals noch unbekannten Poeten, von dem nur eine Hand voll Gedichte in verschiedenen französischen Zeitungen veröffentlicht worden waren. 1873 hatte er in Brüssel eine Broschüre mit lyrischer Prosa unter dem seltsamen Titel Eine Zeit in der Hölle in einer Auflage von 500 Exemplaren drucken lassen, doch war das Büchlein nicht in den Handel gekommen. Der Autor holte sich ein paar Autorenexemplare ab, beglich aber nicht die Druckkosten und schien überhaupt jedes Interesse an der Veröffentlichung verloren zu haben.

Der Rimbaud, der im Frühjahr 1876 nach Wien kam, hatte sich freilich von der Dichtkunst und von seinem unveröffentlichten Werk, das posthum seinen Weltruhm begründen sollte, abgewandt; er war bereits "ein anderer", unterwegs in die Anonymität und in die Legende. Der Dichter war nun vollends zum Nomaden geworden, zu einem Mann der vagen Projekte und der multiplen Identitäten, der es liebte, sich hinter immer neuen Masken zu verbergen, seine Spuren zu verwischen und falsche Fährten zu legen. Sprachen lernend und lehrend vagabundierte er kreuz und quer durch Europa, schlug sich mit allerlei Gelegenheitsjobs durch, verfügte nur selten über Geld und war gesundheitlich oft in miserabler Verfassung. Im Sommer 1876, bald nach dem Wiener Abenteuer, "reiste" er - als Söldner der niederländischen Kolonialarmee - bis nach Java, wo er sogleich desertierte und inkognito die Rückreise nach Irland antrat. Nur wenige Monate zuvor hatte er noch geplant, von Wien aus den bulgarischen Schwarzmeerhafen Varna zu erreichen und von dort weiter nach Russland oder in den Nahen Osten zu fahren. Über das jähe Ende dieser Orientfahrt auf dem Wiener Pflaster sind wir durch Rimbauds Schulfreund (und späteren Biografen) Ernest Delahaye unterrichtet, der damals den Kontakt zwischen den einander entfremdeten Dichtern Rimbaud und Paul Verlaine aufrechterhielt.

Verlaine und Delahaye erkannten in Rimbauds Aufbruch in den Orient im Frühjahr 1876 und in dem unvermittelten Ende dieser Reise in Wien ein für die Unternehmungen ihres gemeinsamen Freundes typisches Muster: Auf eine Phase des wachsenden Unbehagens an der eigenen Lebenspraxis und an seinem jeweiligen Milieu folgte ein überstürzter Aufbruch ins Unbekannte. Rimbaud bewies eine erstaunliche Fähigkeit, mit den tausend Schwierigkeiten solcher Fluchten fertig zu werden. Als geübter Wanderer legte er rasch gewaltige Strecken zurück, und am Ende dieser Reisen stand stets irgendein Unglück, ein Kollaps und ein Abbruch, gefolgt von einer abenteuerlichen Rückreise. Die Lust dieses seltsamen Reisenden war es, aufzubrechen, unterwegs zu sein und - zu scheitern. Verlaine nannte ihn "den Mann mit den Sohlen aus Wind" (verglich ihn also mit Hermes, dem Götterboten), Delahaye sprach von ihm als von einem neuen Ahasver.

Rimbaud hatte seine Karriere als Dichter, Ausreißer und Poetologe als 15-jähriger Gymnasiast begonnen. Der Deutsch-Französische Krieg setzte der Schulzeit des brillanten Schülers vorzeitig ein Ende, und der Bursche nutzte das Chaos des Krieges, der ihm unverhoffte Freiheiten bescherte. Ende August 1870 - also kurz vor der kriegsentscheidenden Schlacht bei Sedan und dem Sturz Napoleons III. - versuchte er vergeblich, sich in die Hauptstadt Paris, das politisch-kulturelle Zentrum des Landes, durchzuschlagen. Im Oktober entwischte er dann zum zweiten Mal der Kontrolle seiner Mutter und wanderte hungrig und dichtend über Brüssel nach Douai (wo sein Lehrer Izambard lebte). Ende des Jahres wurde das Charleville benachbarte Festungsstädtchen Mézières von preußischen Truppen in Brand geschossen, und Ende Februar 1871 gelang dem jungen Dichter eine dritte Flucht. Diesmal blieb er zwei Wochen in der Hauptstadt und versuchte erfolglos, mit Künstlern und Journalisten in Kontakt zu treten. Paris war vier Monate lang von der deutschen Armee belagert und schließlich durch Aushungerung und Artilleriebeschuss zur Kapitulation gezwungen worden. Rimbaud wurde Zeuge von Massendemonstrationen gegen die Regierung Thiers und (am 1. 3. 1871) des Einmarschs von 20.000 deutschen Soldaten. Nur eine Woche nach seiner Rückkehr nach Charleville erhob sich die Hauptstadt gegen die Versailler Regierung; am 28. März wurde die Kommune proklamiert. Begeistert verfolgte der junge Dichter diese Ereignisse aus der Ferne. Die alte Ordnung war zusammengebrochen, und im "heiteren Arbeiter-Paris der Kommune" (Marx) schienen die kühnsten Träume der utopischen Sozialisten wahr zu werden.

War die Pariser Kommune ein Versuch, Politik und Gesellschaft von Grund auf zu erneuern, so sollte eine neue Generation von Poeten auch den ästhetischen Horizont der bürgerlichen Welt überschreiten. Rimbaud schrieb, ihre ebenso aktuelle ("moderne") wie "objektive" Dichtung solle "weder beschreiben noch belehren"; sie solle vielmehr das, was bisher "unaussprechlich" gewesen sei, zur Sprache bringen und für die neuen Themen und Sujets neue Formen finden. In seinen poetologischen Briefen heißt es, der Dichter müsse sich "hellsichtig" machen, um mehr und weiter zu sehen als seine Zeitgenossen. Nur durch Grenzüberschreitungen und Tabubrüche könne er sich von den Vorurteilen seines Milieus befreien; er müsse "verlumpen", sich auf verpönte Praktiken einlassen und zu einem Paria werden. Im Spätsommer 1871 nahm er mit dem zehn Jahre älteren Verskünstler Verlaine Kontakt auf, der ihn einlud, nach Paris zu kommen.

Dem Dichterzirkel um Verlaine, den "Parnassiens", trug der Bursche aus der Provinz sein Gedicht Das trunkene Schiff vor, das - Poetologie und biografischer Entwurf in einem - die älteren Kollegen staunen machte. Rimbaud war darauf aus, mit Verlaine die Möglichkeiten des ihm vorschwebenden, Hellsicht verbürgenden Parialebens zu erproben, die Vagabondage. Tatsächlich verließ Verlaine Familie und Beruf und folgte (wenn auch widerstrebend) dem Kinderpoeten, den er "Engel und Dämon" nannte, von Paris nach Brüssel, dann auf Wanderungen durch die belgische Provinz und schließlich nach London, wo sie im Milieu der Kommune-Flüchtlinge für kurze Zeit eine Zuflucht fanden. Ihre Freundschaft stand im Zeichen von Homosexualität und Anarchie. Die beiden Vaganten, die von Verlaines Geld und (in London) von Sprachunterricht lebten, wurden rasch zu anrüchigen Außenseitern, zu "verrufenen Dichtern" (Verlaine). Ihre schwierige Dichterliebe endete im Sommer 1873 in Brüssel mit einem Eklat, als Verlaine mit einem Revolver auf Rimbaud feuerte, der sich aus der Beziehung lösen wollte. Während ihrer gemeinsamen Wanderjahre und in den beiden Jahren nach dem katastrophalen Ende ihrer Liaison erreichte die Kunst der beiden Dichtergenies ihren Höhepunkt: In den Jahren 1873-75 entstanden die beiden großen lyrischen Prosadichtungen Rimbauds - Eine Zeit in der Hölle und die Illuminationen -, Verlaines Lieder ohne Worte und seine (noch im Gefängnis geschriebene) Poetik (L'Art poétique), in der es heißt: "Dein Vers sei das Künftige, dahinfliegend im wirbelnden Morgenwind, der nach Minze und Thymian riecht . . . Alles andere ist nur Literatur."

Tabubrüche, Grenzüberschreitungen und die Entriegelung (oder Entregelung) der Sinne hatten dem jungen Dichter dazu verholfen, mehr zu sehen als seine Zeitgenossen. Doch das große Experiment der Pariser Kommune war ebenso gescheitert wie das kleine einer Dichterkommune zu zweit. "Die erträumte Befreiung, das Zerbrechen der Gnade, [wurde] durchkreuzt von neuer Gewalt", heißt es in den Illuminationen. Enttäuscht brach Rimbaud nicht nur mit dem Dichterfreund Verlaine, sondern mit der Dichtung, der "Alchimie des Worts", überhaupt: "In der Hölle kann man nicht dichten."

An einer Schlüsselstelle der Saison en enfer - in dem Kapitel über "Das Unmögliche" - heißt es: "Meine Verachtung war wohlbegründet, und jetzt breche ich auf." Sein Leben lang suchte Rimbaud nach einem verlorenen oder noch nie da gewesenen "wahren Leben", von dem er nur wusste, dass es "anderswo" sei. Es war die Suche nach einem Ausweg aus dem Labyrinth der herrschenden Lebensformen, stets von der Furcht getrieben, am Ende davon doch nicht loszukommen: "Man kommt nicht von der Stelle", "wo immer die Post uns absetzt - überall derselbe bürgerliche Zauber!"

Rimbauds Dichtungen sind erhellt vom "Wetterleuchten eines fernen Glücks". Er war, vor allem nach seinem Abschied von der Dichtung in den Jahren 1873-75, im Unterschied zu Fourier oder zu seinem Malerkollegen Paul Gauguin, ein skeptischer Paradiessucher. Noch ehe er die Welt bereiste, war ihm, dem Sohn eines französischen Kolonialsoldaten und Koranübersetzers, bewusst, dass die europäische Wirtschaft zur Weltwirtschaft geworden war, dass der imperialistische Kapitalismus längst auch den "Orient" umfasste und sich die letzten "Paradiese" einverleibte, und dass man aus dem Bannkreis bourgeoiser Lebensformen nicht heraustreten konnte, weil er längst zum Horizont der Welt geworden war.

1880 wandelte sich der Weltenbummler und Gelegenheitsarbeiter dann zu einem Kaufmann und Entdeckungsreisenden. Er hatte sein Eldorado gefunden - am Horn von Afrika. Zuerst im jemenitischen Aden, dann auf der somalischen Halbinsel, in Harar, wurde aus dem Dichterprinzen, dem Erben Baudelaires, ein tüchtiger Manager französischer Firmen, die mit Kaffee und Elfenbein, Häuten und Moschus handelten. Rimbaud, schreibt sein englischer Biograf Graham Robb, war bald "am Horn von Afrika als der Erforscher des Ogaden und als erstklassiger Arabist' bekannt". "Gegen Ende des Jahres 1888 drehte sich der größte Teil des Außenhandels im südlichen Abessinien um Rimbaud. Er fungierte als Importeur und Exporteur, als Prospektor und Finanzier, als Mittelsmann für den wichtigsten Waffenimporteur (Savouré), als Agent des ältesten Handelshauses in Aden (Tian & Co.) und als Hauptlieferant für Alfred Ilg, den Chefplaner der neuen Nation König Meneliks."

Dem "Neuen" und "Unbekannten" blieb er auf der Spur. Doch suchte er es nicht mehr in der Welt der Visionen und Gesänge, sondern im Raum, an der Grenze der damals bekannten Welt, zuerst als Agent französischer Firmen, dann, in eigener Regie, als Expeditionsleiter und Händler. Abgesehen vom Handel mit schwarzen Sklaven war der Waffenschmuggel das einträglichste Geschäft. Rimbaud rüstete schließlich selbst eine Kamelkarawane aus und belieferte einen besonders skrupellosen Warlord, den König von Schoa (der später als Menelik II. Kaiser von Äthiopien wurde), mit 60.000 ausgedienten Gewehren aus französisch-belgischen Heeresbeständen. Er trug damit nicht unwesentlich zu Meneliks späterem Sieg über die italienische Expeditionsarmee (in der Schlacht von Adua im März 1896) bei.

Die Rechnung des Waffenschmugglers ging auf, doch eine tückische Erkrankung bereitete seinem Traum, endlich nicht mehr als Habenichts oder im Auftrag von Firmen und geografischen Gesellschaften, sondern als Kapitalrentner sorglos durch die Welt reisen zu können, ein jähes Ende. Mit einem Geldvermögen und einem Gürtel voll Gold kehrte der todkranke Abenteurer, dessen Dichterruhm sich in den Achtzigerjahren in Frankreich allmählich verbreitet hatte, im Mai 1891 nach Marseille zurück, wo ihm die Ärzte das rechte Bein amputieren mussten. Im Sommer desselben Jahres verbrachte er noch einmal vier Wochen lang auf dem Bauernhof seiner Mutter in Roche, wo er 1873 Une saison en enfer komponiert hatte. Dann ging die qualvolle Reise über Paris zurück nach Marseille, wo er am 10. November 1891 starb.

In Une saison en enfer fragt sich Rimbauds "Höllengenosse" Verlaine: "Verfügt er vielleicht über geheime Kräfte, um das Leben zu verändern?" "Nein", lautet seine Antwort, "er sucht nur danach . . ." Rimbaud ist der Schutzpatron derer, die ruhelos durch die Welt streifen, auf der Suche nach dem richtigen Wort und dem richtigen Ort, nach der Formel, die vielleicht alles wendet. Seine Dichtungen erhellen ihre Wege. (DER STANDARD, Printausgabe vom 23./24.10.2004)

Rimbaud, Sämtliche Werke. Französisch und Deutsch. Übertragen von Sigmar Löffler und Dieter Tauchmann. € 12,90/496 Seiten. Insel, Frankfurt/Main 2004. Graham Robb, Rimbaud. € 16,50/352 Seiten. Picador, London 2001.