Cineast und Weltbürger: Amos Vogel, gesehen vom österreichischen Dokumentarfilmer Egon Humer ("Emigration N.Y.", "Amos Vogel - Mosaik im Vertrauen").

Foto: Egon Humer
Einem großen Mentor des "Films als subversive Kunst" widmet die Viennale heuer eine eigene sehenswerte Programmschiene: Anmerkungen zum Tribute to Amos Vogel von Egon Humer


Das Kino bedeutet eine totale Umkehrung von Werten, eine vollständige Umwälzung von Optik, Perspektive und Logik. Es ist erregender als Phosphor, bezaubernder als die Liebe.
Antonin Artaud

Mit dem Tribute to Amos Vogel ehrt die Viennale eine außergewöhnliche und unkonventionelle Persönlichkeit des internationalen Kinos. Die Filme, für die der in Wien geborene Kritiker, Autor und Filmdozent eintrat und immer noch eintritt, stoßen auf kontroverse Reaktionen, geben Anlass zu Reflexion und Diskussion. Sie brechen mit Tabus und Konventionen und unterwandern traditionelle Normen.

Mit dem Erfolg und dem Zugang zu einer größeren Öffentlichkeit, wie sie die Viennale bietet, geht aber auch eine Nutzbarmachung eines eigenwilligen und "unangepassten" Werkes einher. Amos Vogel konstatierte zu diesem "Phänomen" generell in seinem Buch Film as a Subversive Art, "dass der heutige Kapitalismus die Fähigkeit besitze, Opposition zu absorbieren, zu pervertieren und gleichzuschalten sowie das oppositionelle Produkt selbst in einen Gebrauchsgegenstand umzuwandeln".

Vogel verweist hier auf die Gefahr des Niedergangs eines subversiven Werkes, indem es durch Mechanismen der Einbindung und Akzeptanz seiner Vitalität und oppositionellen Kraft beraubt wird. Positive Resonanz sei daher unter diesem Aspekt immer kritisch zu betrachten.

Der Emigrant

Amos Vogel, geboren 1921 in Wien als Amos Vogel(baum). Besuchte die Volksschule und das Piaristengymnasium in Wien. Der Vater ein angesehener Rechtsanwalt, die Mutter arbeitet als Kindergärtnerin mit Alfred Adler und eröffnet einen der ersten Kindergärten nach dem Ersten Weltkrieg. Schon früh wird Amos vom sozialen und politischen Engagement der Eltern geprägt. Nach dem Anschluss 1938 flüchtet er mit seiner Mutter zuerst nach Kuba und dann in die USA, wo sie der Vater bereits erwartet.

Amos will nach Israel auswandern und beginnt deshalb mit dem Studium der Landwirtschaft in Georgia im Süden der USA, um sich auf die Arbeit im Kibbuz vorzubereiten. In Georgia erlebt er mit Bestürzung die Apartheidpolitik gegenüber den Schwarzen. Aufgrund der Haltung Israels gegenüber den Palästinensern gibt er seine Kibbuz-Pläne auf und geht nach New York zurück, um an der New School of Social Research Wirtschaftswissenschaft zu studieren. Dort lernt er seine Frau Marcia kennen, die er, eine Ironie des Schicksals, am Tag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima heiratet.

An Film und Kunst interessiert, gründet er angeregt durch Maya Deren im November 1947 gemeinsam mit seiner Frau, dem Zivilanwalt Robert Delson, Marcias Bruder David Diener, seinen Freunden Rene und Ralph Avery sowie seinem Vater Samuel Vogel CINEMA 16.

Der Filmklub, der sich bald zum größten in den USA entwickelte und der sich zeitweise rühmen konnte, tausende von Mitgliedern zu haben, hat wesentlich zu einer Tradition der Nachkriegskultur in den Vereinigten Staaten beigetragen. Den Zuschauern wurde eine große Auswahl an Filmformen geboten. In Auszügen liest sich das Statement of Purpose von CINEMA 16 so:

"CINEMA 16 is a cultural, non profit organization devoted to the presentation of outstanding 16mm documentary, educational, scientific and experimental films. It is the aim of Cinema 16 to bring together this audience and these films. CINEMA 16 will thereby advance the appreciation of the motion picture not merely as an art, but as a powerful social force ..." Dies wird von Beginn an von einem breiten Spektrum der Kunstszene mitgetragen, das Film als Filmkunst in ihrer Bedeutung unterstützen wollte.

Lehrmeister Film

Amos Vogels Leben und Wirken für den Film muss aber auch aus den biografischen Erfahrungen der NS-Zeit verstanden werden. Es ist daher wichtig, den von ihm in der Erklärung von CINEMA 16 festgeschrieben Begriff "displaced human being" vor dem eigenen biografischen Hintergrund als "displaced person", die er (und seine Eltern) in seiner Heimat vor der Flucht und Emigration war, zu sehen. Ebenso der Begriff: "facing man in the atomic age" der bei CINEMA 16 explizit zum Programm erhoben wurde.

Amos Vogel sah sich selbst auch durchaus als Pädagoge und im Kino eine demokratische Bildungsanstalt. Damit war die Hoffnung verbunden, das gesellschaftliche Potenzial innerhalb der Demokratie zu stärken und auch so etwas wie globales Verantwortungsbewusstsein zu kultivieren.

Für Vogel ist Film der beste Lehrmeister aller Kunstformen, denn er lehrt nach Pudowkin "nicht nur durch das Gehirn, sondern durch den ganzen Körper." Denn, so Vogel, sobald die Lichter verlöschen, wird die große viereckige Leinwand zum totalen Universum des Zuschauers. Kino, abseits vom Massenkino, bedeutet für Vogel eine totale Umkehrung von Werten, eine vollständige Umwälzung von Optik, Perspektive und Logik.

Subversive Kunst

1974 erscheint Vogels Buch Film as a Subversive Art, das in mehrere Sprachen übersetzt bald ein Standardwerk wird und in Deutsch unpräzise als Kino wider die Tabus herausgegeben wird. Dieses Buch gibt am besten Auskunft über Amos Vogel selbst und seine Sichtweise von Film wieder.

Subversive Filme, wie er sie darin beschreibt, leiten sich aus den Erfahrungen mit CINEMA 16 ab. Die darin beschriebene Subversion beschäftigt sich mit der Zerstörung oder Veränderung bestehender Werte, Institutionen, Sitten und Tabus in Ost und West, bei Linken und bei Rechten, durch die Filmkunst.

Amos Vogel schafft dabei einen Überblick über die Geschichte der visuellen Tabus. Als ursprüngliche Tabus nennt er Tod, Sexualität und Geburt, wobei Sexualität immer besonders streng tabuisiert wurde. Im Kino, so Vogel, lässt sich das Publikum bereitwillig von starken Bildern gefangen nehmen, die ein Regisseur geschaffen und manipuliert hat und dieser Zauberer beherrscht nun seine – des Zuschauers – Visionen. André Breton folgend wird daher das einzige wirklich moderne Mysterium im Kino gefeiert.

Im Grunde, so Vogel, sei jedes Kunstwerk so subversiv, wie es schöpferisch ist und mit der Vergangenheit bricht, statt sie zu wiederholen. Die grundlegende Intention des subversiven Films beschreibt er als "Unterwanderung des Bewusstseins und die Einbeziehung des Zuschauers". Dabei bleibt er skeptisch gegenüber ewigen Wahrheiten, Kunstregeln, Naturgesetzen und Ordnungsprinzipien, den anerkannten Werten.

Für Amos Vogel handelt der subversive Künstler als soziales Wesen. Kunst kann für ihn aber niemals an die Stelle der sozialen Tat treten und ihre Wirklichkeit kann tatsächlich ernsthaft beeinträchtigt werden, wenn ihr von der Machtstruktur Beschränkungen auferlegt werden. Um die Subversion des modernen Kinos zu verstehen, müssen wir nicht nur über den Film, sondern auch über die Kunst hinausgehen und die Entwicklung des zeitgenössischen Weltbildes, auf dem sich Kreativität und Originalität des Künstlers entfalten, betrachten.

Avantgarde

Film als subversive Kunst ist auch heute noch die umfassendste Geschichte und Analyse des avantgardistischen Films und seiner permanenten Grenzüberschreitungen. In kaum einem Buch, so Alexander Horwath in seiner Einleitung zur Neuauflage 1997, "treffen Einzelfilmbeschreibungen, allgemeine Reflexionen über das Kino, Bildtexte und Fotos so produktiv – und offensiv – aufeinander".

Vogels immense Filmerfahrung ist immer angereichert durch eine Aufmerksamkeit, die dem ganzen Kino gewidmet ist, wo es bestehende Normen, ästhetische und ideologische Konventionen zu unterwandern sucht. Für Ulrich Gregor war es: "Film als Herausforderung, als Befragung von Wirklichkeit: Kino als Provokation. Eine faszinierende Erforschung filmischer Grenzräume." Für Luis Buñuel "ein dichter Garten, der mit verbotenen Früchten lockt".

Film as a Subversive Art, in viele Sprachen übersetzt, ist präsenter geblieben als viele Filme, die in diesem Standardwerk beschrieben wurden. Die rund 500 im Buch behandelten Filme sind mittlerweile, bis auf Ausnahmen, wahrscheinlich noch unbekannter als beim erstmaligen Erscheinen des Buches vor 30 Jahren, aber nicht minder interessant.

Nach CINEMA 16 gründete Amos Vogel das Lincoln Center Film Department und war Mitbegründer des New York Filmfestivals. Er war dessen erster Direktor und dann bis 1968 für die Programmplanung verantwortlich. (Das NYFF-Jubiläum hat ihn dafür anlässlich des 40. Geburtstages mit einer umfangreichen Programmschau gewürdigt.) Er war Vorsitzender des amerikanischen Auswahlkomitees für die Filmfestivals in Cannes, Moskau, Berlin und Venedig sowie Professor an der Annenberg School of Communication der University of Pennsylvania, wo sich heute auch sein umfangreiches Archiv befindet. Seine New Yorker Wohnung ist Lebensraum, Bibliothek und Archiv – gefüllt mit Fotos, Texten, Tapes ...

Im Rahmen ihres eigentlich längst überfälligen Tributes an den leidenschaftlichen Filmliebhaber Amos Vogel wird die Viennale etwa 20 Lang- und Kurzfilme zeigen, die Vogels energischem Einsatz und leidenschaftlicher Unterstützung viel zu verdanken haben – darunter Arbeiten von Antonioni, Werner Herzog, Jerzy Skolimowski oder Bruce Conner. Der Tribute to Amos Vogel ist Ehrung einer "exemplarischen Cinephilie" (Stefan Grissemann) und einer Lebenshaltung, die sich durch politische Wachheit, Unkorrumpiertheit und Unabhängigkeit auszeichnet.

Gezeigt wird auch Film as a Subversive Art: Amos Vogel und Cinema 16, des jungen englischen Filmemachers Paul Cronin. Dieser schreibt: "Der Film erzählt die Geschichte eines unbesungenen Helden des Weltenkinos. Und er selbst erahnt, dass irgendwo, um es mit Vogels Worten zu sagen, eine 'andere Welt des Kinos' existiert, damit hoffentlich etwas entzünden können".

In meinem Film Amos Vogel – Mosaik im Vertrauen (2002) beschrieb Vogel im Alter von 80 Jahren so: "I am a jew, but an atheist, a radical socialist but an enemy of Stalin. I was a left-wing zionist and now I am an anti-zionist. I am an American citizen but feel myself to be a citizen of the world". (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.10.2004)