"Wir hatten nicht viele Happyhours in unserer Geschichte": Viktor Jerofejew bei der Volkstheatermatinee zu "Globalisierung und Gewalt" am Sonntag.

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Wien - Ein Land, dessen Menschen Generation für Generation in Gehorsamsstrukturen aufgewachsen sind, misstraut der politisch verhängten "Freiheit" genauso wie der davor herrschenden Unfreiheit. Russland kann nach fünfzehn postkommunistischen Jahren auf keine offene, demokratische, selbstbestimmte Gesellschaft bauen. Die Gesellschaft flieht den Staat, umso autarker und autoritärer geht die Politik vor. Das Massaker an Schulkindern in der südossetischen Stadt Beslan Anfang September hat die Sehnsucht nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit verstärkt. Wie aber die Politik nach dieser "phantasmagorischen" Katastrophe weitermachen soll, wüsste auch Schriftsteller Viktor Jerofejew weder Präsident Putin noch dessen Gegenspieler, dem tschetschenischen Rebellenführer Bassajew ("Master of Fear"), zu raten. Jerofejew (57) wurde in der Volkstheater-Gesprächsreihe "Globalisierung und Gewalt" von STANDARD-Kulturressortleiter Claus Philipp zum Terrorismus in seinem Land befragt. Und da war es für den Schriftsteller vorrangig schwierig, sein Land heute als Nation, als Volk mit einer Mentalität oder als Träger einer öffentlichen Meinung zu fassen. Rätsel "Globalisazia"

Die Moskauer seien sehr international, doch zweihundert Kilometer weiter wäre ein jeder Bürger bass erstaunt, wenn man ihn als Europäer anspräche. Und was "Globalisazia" sein soll, ist dort ebenso ein Rätsel. Aber die Menschen an den Rändern - und davon gibt es in Russland viele - geben auf metaphysischer Ebene dieser Kultur den Halt, auch wenn sie keine Dollarscheine haben.

"Russen leben ganz als Privatpersonen", sagt Jerofejew, der desgleichen als Privatmann am Podium antworten möchte. "Wir wollen - insgesamt als Land - nicht ,arbeiten' und sind deshalb auch nicht produktiv. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass jede Aktion Versagen und Desaster nach sich zieht und dass es deshalb besser ist, passiv zu bleiben. So ein Land ist nach westlichen Maßstäben natürlich nicht zu regieren!"

Was für den einzelnen Russen zählt, sind Familie, Freunde, Nachbarschaft, und genau durch dieses Raster werden terroristische Attacken wahrgenommen. "Mein Sohn ist einem U-Bahn-Anschlag nur um drei Stunden entgangen", sagt Jerofejew und schickt zugleich einen (üblicherweise makaberen) Witz voraus: "Wir Russen sind derart optimistisch, weil wir stets eine Hin-und Rückfahrkarte kaufen."

Jerofejew selbst ist Zwangsoptimist. Als Kolumnist sowie als Talkmaster einer wöchentlich im russischen Hauptabendprogramm gesendeten Show (mit Millionenpublikum) ist es ihm immerhin möglich, Themen und Meinungen zu platzieren. Am allerwichtigsten sind jetzt die Journalisten, so Jerofejew. Sie sind es, die sich aufrecht an die Wahrheit herantasten, auch wenn man da und dort Beschneidungen in der Pressefreiheit spürt.

Hoffnung setzt der auf eine "glückliche stalinistische Kindheit" zurückblickende Sohn einer ranghohen Diplomatenfamilie (zuletzt erschien sein autobiografischer Roman Der gute Stalin) in die heutige Jugend. "Die kennen nicht einmal mehr den ersten Namen Lenins! Deshalb fehlt ihnen die Furcht in den Augen, und das ist sehr gut!" (Margarete Affenzeller/DER STANDARD, Printausgabe, 11.10.2004)