Thomas Meinecke
Musik.
€ 19,80/372 Seiten.
Suhrkamp,
Frankfurt/M 2004.

Foto: Suhrkamp

Über seine Arbeitsweise hat sich Thomas Meinecke einmal wie folgt geäußert: "Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen meinem Schreiben und der Musik wäre das Plattenauflegen, wo man über ein paar Stunden ein Set hat, das man vorher niemals wirklich planen kann. Man nimmt sozusagen einen Pool an Tonträgern mit, ist sich aber am Anfang noch nicht bewusst, in welcher Reihenfolge die dann zum Einsatz kommen werden, weiß aber, dass die sich zueinander irgendwie verhalten."

Es geht hier beim fälschlicherweise immer als Pop- literat titulierten Thomas Meinecke aber nicht nur darum, Sprache und Text auf Rhythmus, Melodie oder Harmonie abzuklopfen. Bei den "Romanen" des bayerischen Radio-DJs und Musikers ("Freiwillige Selbstkontrolle") haben wir es auch keinesfalls mit dem im Genre gewohnt affirmativen, coolen, zynischen und oberflächlichen Aufgehen in den neuesten Modetorheiten zu tun: Zeitgefühl, -genossenschaft oder gar -geist. Wenn man sich die Geisteswelt als Plattengeschäft vorstellt und sich hier speziell für die Kiste "Cultural Studies" interessiert, zieht Meinecke beim Stöbern nach Dancefloor-Füllern für den Club Diskurs am ehesten abstrakten und spröden Minimal-Techno aus den Kisten. Und er versucht beim Mixen der Platten auf sprachlicher Ebene trotz der weitgehenden künstlerischen Verarbeitung fremder Ideen sozusagen als Biosampler dennoch eine eigene durch die Geisteswelten und Ideengeschichten fließende Stimme zu entwickeln.

Mit geradezu schulmeisterlicher Behändigkeit und vor allem auch trotz seiner hypermodernen, urbanen Untersuchungsgegenstände merkwürdig oft einem altertümlich schwurbelnden Deutsch verpflichtet, hantiert Meinecke seit The Church Of John F. Kennedy aus 1996 herauf über Tomboy und zuletzt Hellblau stets mit denselben zentralen Fragen: Identität, Gender, die Konstruktion der Geschlechter, Rasse - und immer wieder afroamerikanische Musikgeschichte, ihre Rituale, Gesten, Codes.

Soul, Disco, House, Techno, Afrofuturismus, die Auflösung des Storytelling und des Song im instrumentalen Dancetrack, der nicht mehr linear, sondern immerdar, ohne Anfang und Ende ist. Das alles in Verbindung mit dem zunehmenden Verzicht auf klassische Erzählstrukturen oder nach der Norm gezeichnete Romanstrukturen. Schließlich die heute hier in Musik beinahe endgültige Auflösung von dreidimensionalen Protagonisten hin zu austauschbaren, flach und ohne eigenes Innenleben bleibenden Figuren, die sich durch diesen "Roman" bewegen wie eine Suchmaschine durchs Internet.

Und mit Google und Yahoo als Bibliotheksgehilfen ist dieser atemberaubende und letztlich auch alle Kräfte auf dem Tanzboden raubende DJ-Set dann wohl auch geschrieben worden. Als humanoides Programm zum Festhalten fungiert das Geschwisterpaar Kandis und Karol. Sie gibt eine feministische, maskuline, heterosexuelle Schriftstellerin, die einen Roman vorbereitet, der um Personen kreist, die am 25. August geboren oder gestorben sind: Ludwig I. und II. von Bayern, Lola Montez und Claudia Schiffer - Friedrich Nietzsche und R'n'B-Sängerin Aaliyah. Er, Karol, ist Flugbegleiter, heterosexuell mit femininen Zügen, der seine Heterosexualität aber zunehmend als "das Andere in der Homosexualität" begreift. Karol schreibt an einer Untersuchung zur Beziehung von "Süß" und "Scharf" in den geschlechtlichen Konstruktionen von Popmusik. Außerdem will er die Rapmusik von ihrem Sexismus befreien.

Karol und Kandis und ihre jeweiligen Gesprächspartner, etwa Nietzsche und Bücher von Judith Butler lesende Stewardessen-Kolleginnen von Karol, fungieren hier nicht als eigene Stimmen, sondern als Filterprogramme, die die unglaubliche Textflut bezüglich Geschlecht und Identität sortieren und rhythmisch stimmig ordnen. Meinecke hat sich nach seinen Vorarbeiten erzählerisch noch einmal radikalisiert und lässt nur mehr einen "narrativen Lufthauch" durch seine Schreibstube wehen, während er hier auf Dauer ziemlich anstrengend öffentlich seine Lesearbeit dokumentiert. Das Erzählen mag ja heute am Ende sein. Am Ende sollte man aber auch dafür eintreten, dass zum Sinn manchmal Sinnlichkeit dazukommt. Sonst fängt der Autorentechno aus den Ohren zu stauben an. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10.10.2004)