Jonathan Lethem
Die Festung der Einsamkeit.
Aus dem Amerikanischen von Michael Zöllner.
€ 25,60/668 Seiten.
Tropen Verlag,
Köln 2004.

Grafik: Tropen

Sie waren die Ersten in einem fremden Territorium: Die Ebdus-Familie, ein typisches Beispiel der Gegenkultur, bezieht in den 70er-Jahren Gowanus, ein Viertel des New Yorker Stadtteils Brooklyn, in das bis dahin keine Weißen vorgedrungen waren. Afroamerikaner und Puertoricaner hausen hier, aber Leute wie die Ebdus bereiteten den Boden für eine umfassende Veränderung dieses urbanen Lebensraums, indem sie Multikulturalität als Herausforderung begriffen. Im Zuge der Gentrifizierung ernteten Grundstückspekulanten später dafür den Ertrag: Das Viertel wurde hip, der Mietpreis hoch, eine Bevölkerungsgruppe vertrieben.

In Jonathan Lethems neuem Roman Die Festung der Einsamkeit bildet diese Stadterneuerung den äußeren Rahmen für eine Coming-of-Age-Geschichte, die zugleich immer auch ein Stück Zeit-, Pop- und Musikgeschichte ist. "Um die Welt als Begleittext zu sehen: Ich bin der DJ, ich bin, was ich spiele": So lautet das vorläufige Resümee von Dylan Ebdus, der zentralen Figur, gegen Ende des Buches. Es ist die Erkenntnis eines Erwachsenen, der auf eine Kindheit in einem Milieu zurückblickt, in dem er als whiteboy der Außenseiter blieb. Der von schwarzen Kids in den Würgegriff genommen wurde; der den Spaldeen - eine Abart von Baseball - kaufen durfte, aber selten fangen; der sich als Superheld entwarf, um als Retter einzugreifen - und trotz alldem ein Privilegierter blieb.

Dylan ist ein Alter Ego des Brooklyn-stämmigen Autors, der sich mit diesem epischen Roman von den früheren Sci-Fi- und Hard-Boiled-Genrebastards (Motherless Brooklyn) entfernt, ohne seine Eigenheiten aufzugeben. Der erste große Teil des Buches rekonstruiert die verlorene Zeit der 70er - nicht jedoch als Kontinuum eines Reifeprozesses, sondern als vielschichtiges Panoptikum in der Tradition eines John Dos Passos': Das Situative, Momenthafte erhält darin meist den Vorzug gegenüber linearen Entwicklungen. Dylans Jugend bildet eine Art soziologisches Experiment: Seine Mutter Rachel, eine Hippiefrau, stößt ihn in die Schule der Dean Street, wo sich der Bub behaupten muss - und verschwindet irgendwann. Abraham, der Vater, der sich zeitlebens dem Projekt eines gemalten Films im Stile Stan Brakhages verschrieben hat, kann diese Lücke nicht füllen: Er gewährt dem Sohn eine Freiheit, mit der er selbst überfordert ist.

Doch es ist kein Generationenkonflikt, den Lethem verfolgt, vielmehr die Spaltung innerhalb einer Generation: Im schwarzen Nachbarsjungen Mingus Rude, dem Sohn einer Soullegende, findet Dylan einen Komplizen - die erste Freundschaft, der die Frage der race nicht im Wege steht, obgleich sie ein Hindernis bleibt - schon ihre Namen verweisen auf einen unterschiedlichen ethno-spezifischen Musikzusammenhang. Mingus gibt Dylan einen Platz auf der Straße, gemeinsam sprühen sie Graffiti an Wände, tauschen Comics aus (und imaginieren sich selbst als Heroen) oder teilen erste sexuelle Erfahrungen miteinander. Lethem grundiert diese so frei schwebende wie sinnliche Geschichte des gemeinsamen Aufwachsens mit den Zeichen der Zeit; über den Wandel der popkulturellen Einflüsse erstellt er die Chronotopen einer Ära, die sich allmählich ihrem Ende nähert.

So landet Mingus in den verkommenen staatlichen Schulen, und sein Vater Barrett wird immer mehr zum koksenden Wrack: Doch wo die afroamerikanischen Charaktere, vielleicht eine Spur zu absehbar, auf die schiefe Bahn geraten, gelingt Dylan der Ausstieg, der Übergang in die gesicherten Bahnen einer mittelständischen Existenz. Die letzten Jahre der High-School verbringt er schon in Manhattan unter lauter Weißen, und er wechselt zu dem Zeitpunkt ins College, als Mingus seine erste Gewalttat begeht.

Brooklyn, Gowanus, die Dean Street wird Dylan dennoch nie los - davon erzählt der zweite Teil von Die Festung der Einsamkeit, der in die Ich-Form eines zerrissenen Erwachsenen wechselt. Schon der Titel von Lethems Roman bezieht sich ja auf die Konservierung der Vergangenheit: auf Superman und jene Flasche, in der die verkleinerte Form seiner Welt steckt. Dylan hat sich seine Kindheit auf ähnliche Art aufbewahrt: Als Plattensammler greift er auf diese wie auf ein Archiv zu, als Musikkritiker kann er sie nur objektiv beschwören, richtig lebendig wird sie aber nie.

Aus der Perspektive der Gegenwart erscheinen die 70er-Jahre als eine Kultur, zu der man sich zwar noch als Fan verhalten kann, die aber in der Regel zum Mainstream wurde, in dem spezifische Zwischenräume nicht länger wahrnehmbar sind. Dylan will jedoch mehr, er sucht nach Evidenz, nach Lebenszeichen: "Ich brauchte eine Musik, die erzählte, wie es war, wie ich es auf den Straßen gelernt hatte." Deshalb kehrt er zurück, in das gentrifizierte Brooklyn und in das Gefängnis, in dem Mingus sitzt, sein Freund. Das Paradies, die Utopie bleiben aber uneinholbar - die Festung der Einsamkeit öffnet sich nur in kurzen Momenten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10.10.2004)