Zur Person

Viktor Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, gilt als einer der führenden Autoren Russlands. Sein Roman "Die Moskauer Schönheit" ist in 27 Sprachen übersetzt. Sein letzter Roman, "Der Gute Stalin", ist heuer auf Deutsch erschienen.

Foto: Steiner
Im Rahmen der Volkstheater-Matineen "Globalisierung und Gewalt" wird der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew am Sonntag über "Terrorismus in Russland" sprechen. Standard-Korrespondent Eduard Steiner traf ihn vorher in Moskau zu folgendem Interview.

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STANDARD: Ist die jüngste Terrorserie der viel bemühte Wendepunkt für Russland?

Viktor Jerofejew: Das hat es schon oft geheißen, aber diesmal stimme ich zu. Aber es ist nicht so einfach, das Volk aufzuwecken, damit es sich der realen Gefahr bewusst wird. Auch kann man es wie ein Aufwecken von Bestien verstehen - einerseits regt sich Angst und Verantwortung vor allem für Kinder, andererseits das faschistische Verbrechertum gegen die Kaukasier.

Wir haben in Russland nicht die Zivilgesellschaft, die adäquat auf ein solches Ereignis reagieren kann. Wir haben eher eine Bevölkerung als ein Volk, eher eine ziemlich amorphe Masse - und diese kann vielleicht leichter in einer schwierigen Situation überleben, weil sie so zerfließt, dass sie schwer zu erwischen ist. Andererseits aber schließt sie sich während einer politischen Krise nicht zusammen und wird nicht zu einer Nation.

Auch die Vorstellung über Tschetschenien ist völlig uneinheitlich. Wir befinden uns an der Schwelle zu einem Krieg vor allem gegen die Zivilisation - und die tschetschenischen Separatisten sind ein Teil dieses Krieges. Ich bin bis dato prinzipiell für die Unabhängigkeit Tschetscheniens eingetreten. Jetzt weiß ich in dieser Frage keine Antwort.

STANDARD: Russland hat einen eigenwilligen Umgang mit der Wahrheit.

Jerofejew: Der Westen vertraut Russland nicht, weil sogar hinter guten Vorhaben die traditionelle staatliche Lüge steht. Diese war auch unter Jelzin und Gorbatschow - denken Sie nur an Tschernobyl - da.

Unser Hauptproblem mit dem Westen ist, dass wir es nicht schaffen, einheitlich zu handeln. Wir demonstrieren diese Schwäche und ermöglichen so dem Netz der Terroristen zu agieren. Der Terrorismus ist eine traurige historische Chance, dass sich Russland als Teil der europäischen Zivilisation begreift.

STANDARD: Nach Ihrer brutalen Logik war der Terror noch nicht stark genug?

Jerofejew: Anscheinend nicht. Aber die Tragödie von Beslan hat die Leute doch schockiert und wahrscheinlich nachdenklich gemacht. Schlimm aber ist, dass bei uns der Apparat der Analyse nicht funktioniert. Europa analysiert und agiert gemäß den Schlussfolgerungen.

Prinzipiell ist Russland quantitativ und qualitativ kein europäisches Land. Nur bei Intellektuellen und Politikern überwogen selbst zur Sowjetzeit irgendwelche europäischen Züge. So gesehen bin ich gegenüber Putin weniger kritisch geworden als früher.

Denn ich spüre, dass ein Land ohne Zivilgesellschaft und mit den traditionellen Krankheiten wie Korruption, Diebstahl, Bürokratie, Denkfaulheit schwer zu regieren ist. Putin zügelt immerhin die wildesten Wünsche des mittleren bürokratischen Apparates, der die Todesstrafe oder die Totalverachtung Europas verlangt. Er zügelt radikale Kräfte.

STANDARD: Hätte man Ihnen zwei Minuten im staatsweiten Fernsehen nach der Terrorserie gegeben, was hätten Sie der Bevölkerung gesagt?

Jerofejew: Dass wir uns an der Schwelle eines neuen Krieges befinden. Ich hätte das nicht verhüllt. Man muss Wege suchen, um die Nation zusammenzuschließen. Aber ich wäre auf alle Fälle gegen Putins restriktive Maßnahmen. Das ist ein Zynismus angesichts schwerer Momente und untergräbt nochmals das Vertrauen des Westens.

STANDARD: Reagiert die Kunst inhaltlich auf Tschetschenien und den Terror?

Jerofejew: Auf dem Niveau der guten Literatur und Kunst nicht. Das zeigt, dass Russland in seiner kulturellen Dimension nicht an die historische Frage herangehen, sie erfassen kann. Mit wem auch immer man über das Ereignis in Beslan spricht - entweder es geht in Anekdoten über oder in den Fatalismus. Alles ist auf den jeweiligen Tag ausgerichtet. Nirgends Erkenntnisarbeit, überall Anekdoten, Klatsch. STANDARD: Welche Rolle hat die Intelligenzija denn jetzt?

Jerofejew: Intelligenzija, die ja eine Sekte zum Kampf für das Glück des Volkes ist, gibt es nicht mehr. Der Begriff des Glücks und des Volkes hat sich geändert. Neue Ziele - die Entwicklung der Freiheit, der Zivilgesellschaft etwa - hat die Intelligenzija für sich nicht definiert. Jetzt gibt es einfach Schriftsteller, kluge Menschen aber nicht als Intelligenzija. Ein trauriger Zustand, denn die Intelligenzija hat immer die geistigen Werte verteidigt. Und in diesem Sinne ist sie sowohl der Orthodoxie als auch der Autokratie und dem Kommunismus und dem Chaos entgegengestanden. Der jetzige Mittelstand ist dafür zu schwach.

STANDARD: Sie arbeiten mit Worten. Welche Bedeutung hat das Wort in Russland?

Jerofejew: Es hat mehr und mehr Bedeutung. Zynisch gesagt, ist es gut, dass Putin die Schrauben angezogen hat. Denn es sinkt das Vertrauen in das soziale politische Leben - die Leute gehen mehr ins kulturelle Leben, in den letzten eineinhalb Jahren; zur Zeit der Parlamentswahlen im Vorjahr, wo meine liberalen Freunde verloren haben, hat man mich im Fernsehen zum Thema gefragt, und ich sagte, ja jetzt habe ich meine Deputierten - Tschechow, Dostojewski und Nabokov. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8.10.2004)