Brüssel - In der Türkei kommt es nach Ansicht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) weiterhin zu Folterungen. Die Annäherung an die EU habe jedoch für eine "signifikante Verbesserung" gesorgt, sagte Dick Oosting, Direktor des EU-Büros von ai am Montag in Brüssel. Der Aufnahmeprozess in die EU sei für die Menschenrechtslage in der Türkei daher sehr wichtig.

Ob die Fortschritte für den Beginn von Beitrittsverhandlungen ausreichten, sei eine politische Frage, bei der sich ai nicht festlegen wolle, betonte Oosting. Die türkische Regierung sei jedenfalls gefordert, null Toleranz gegenüber Folterungen zu zeigen und die nun bestehenden Gesetze - am Sonntag wurde die zuletzt umstrittene Strafrechtsreform beschlossen - auch in der Praxis zum Einsatz zu bringen.

Auf Druck Brüssels hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auch eingewilligt, von einer Kriminalisierung des Ehebruchs abzusehen. Die wesentlichen Punkte des fast 350 Gesetze umfassenden Pakets sind:

  • Um die Meinungsfreiheit zu stärken, wird der berüchtigte Volksverhetzungsparagraf 312 geändert, der in der Vergangenheit häufig zur Verurteilung unliebsamer Politiker und Journalisten benutzt wurde. Künftig zählt eine Äußerung erst dann als Volksverhetzung, wenn sie eine "offensichtliche und unmittelbare" Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.

  • Zur besseren Bekämpfung der Folter sollen Staatsbeamte, die Häftlinge misshandeln, bis zu zehn Jahre ins Gefängnis müssen; bei Folter mit Todesfolge lautet die Höchststrafe lebenslänglich. Bei übertriebener Gewaltanwendung gegen Demonstranten drohen künftig bis zu fünf Jahre Haft.

  • Die Rechte der Frauen sollen mit einer ganzen Reihe von Änderungen gestärkt werden. So wird erstmals der Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe eingeführt. Um das Unwesen der so genannten Jungfrauentests einzudämmen, darf es solche Untersuchungen nur noch auf richterliche Anordnung geben. Frauengruppen kritisierten die Änderungen bei den so genannten Ehrenmorden, der Tötung von Frauen, die mit angeblich unsittsamem Verhalten die Ehre der Familie beschmutzt haben sollen. Zwar werden Strafnachlässe für Ehrenmorde abgeschafft, Täter können aber immer noch mit Milde rechnen, weil das neue Strafrecht reduzierte Strafen bei Tötung im Affekt vorsieht. (AFP, red, DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 28.9.2004)