Gutgläubigkeit bis zur Selbstaufgabe: Stefan Maaß als williges Tartuffe-Opfer Orgon - und als Opfer einer leb- und lieblosen Inszenierung von Tobias Lenel.

Foto: Theater Graz / Peter Manninger
Saisonauftakt im Grazer Schauspielhaus: Ein staubtrockener "Tartuffe" auf der Hauptbühne, während auf der Probebühne unterm Dach "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" amüsant berühren


Graz - Man könne auch in alten Kostümen und in alten Stücken modern denken, erklärte Regisseur Tobias Lenel vor der Premiere seines Tartuffe, mit dem am Freitag die neue Spielzeit am Grazer Schauspielhaus eröffnet wurde. Womit er sicher Recht hat, nur: Was ein Regisseur denkt, muss nicht zwingend auf der Bühne sichtbar werden. Lenel ist gelungen, was bei einem zeitlosen Stoff wie jenem über den heuchlerischen Prediger und Schmarotzer Tartuffe nicht leicht ist: ein langweiliger Theaterabend.


Weich wie Pressspan

Mit der Geschmeidigkeit einer Pressspanplatte schiebt die Inszenierung jede noch so bösartig komische Pointe Molières aus der Szene. Da müssen alle - weil sie schon mal da sind - mithelfen: Schauspieler, von denen man durch die Bank Besseres sah, sagen in einem Wald hübscher, aber sinnlos herumstehender Stühle (Bühne: Susanne Maier-Staufen) ihre Verse auf. Wenn es aber gar zu statisch wird, laufen sie plötzlich unmotiviert, wie herumtollende junge Hunde, durch den nach allen Seiten offenen Raum, über dem wie ein stumpfes Damoklesschwert ein aus dem Leim gehender riesiger Bilderrahmen schwebt.

Daniel Doujenis spielt seinen Tartuffe als scheinheiligen, stillen Guru, der immer dann am besten ist, wenn sein egoistisches, manipulatives Spiel mit dem gutgläubigen Orgon (Stefan Maaß) beinahe auffliegt. Ein krankhaft berechnender Gast, der seinen Kick aus jedem neuen gelungenen Betrug bekommt, und ein Hausherr, der längst nicht mehr auf seine innere Stimme hört, sondern das Seelenheil in der Selbstaufgabe sucht. Die beiden Schauspieler lassen erahnen, welche Psychogramme sie entrollen könnten, hätten sie in der Inszenierung Platz dafür bekommen. Doch irgendwie bleiben alle Figuren unfertig zwischen den - reichlich vorhandenen - Stühlen sitzen. Nur Martina Stilp als gegen die Verblendungen Tartuffes immune Zofe Dorine scheint in einem anderen Stück mitzuspielen - in einem komischen. Doch sie bleibt leider ganz allein.


Kunstleder

Szenenwechsel: Die mit weißen Kunstleder überzogenen Sitze auf der funktionellen Bühne Florian Barths helfen auf den ersten Blick als Orientierung - die Gummizelle hat immer Saison, die Welt, in der sich ein Mensch frei entwickeln kann, ist anderswo. Ein in jeder Beziehung anderer Theaterabend wartete am Samstag auf der Probebühne des Schauspielhauses auf das Premierenpublikum.

Die österreichische Erstaufführung von Die sexuellen Neurosen unserer Eltern des Schweizer Autors Lukas Bärfuss hat einen viel sagenden, wenig verratenden Titel. Es ist die Geschichte des Mädchens Dora, das eine Behinderung hat und begeistert ihre Sexualität entdeckt, nachdem diese nicht länger mit einem Medikamentencocktail gedämpft wird.

Dabei stößt Dora ihre Umgebung kräftig vor den Kopf, weil sie Dinge sagt, die niemand hören will: "Eigentlich fühl' ich mich immer traurig, außer beim Ficken." Dabei sind die aufgeklärte Mutter (Johanna Orsini-Rosenberg ist als Neuzugang ein Gewinn), die das Kind von den ewigen Pillen befreien will, der harmlose Vater (Erik Göller), der höchst professionelle Arzt (Sebastian Reiß) und der sozial denkende Chef Doras an der Oberfläche nette Menschen. Genau wie der "feine Herr" (Dominik Warta), der Dora als Sexualpartnerin und Projektionsfläche für seine Fantasien missbraucht. Doch konfrontiert mit Doras Direktheit blättert der Lack aller schnell ab.

Die junge Schauspielerin Julia Kreusch meistert eine schwierige Rolle mit einer Unbeschwertheit, die das ganze Stück hindurch anhält. An der Hand genommen wurde sie dabei von der Regisseurin Cornelia Crombholz, der mit einer Mischung aus Respekt und Humor eine Gratwanderung ohne Abstürze gelungen ist. (DER STANDARD, Printausgabe vom 27.9.2004)