New York/Moskau/Rom - Die "New York Times" (Online-Ausgabe) kommentiert am Mittwoch die Rede des US-Präsidenten George W. Bush vor den Vereinten Nationen:

"Wir haben nicht erwartet, dass Präsident Bush mitten in dem Wahlkampf für seine Wiederwahl vor die Vereinten Nationen tritt und schwere Fehler der US-Regierung im Irak einräumt. Trotzdem hätte er genug Möglichkeiten gehabt, diese letzte Chance zu nutzen, eine zunehmend gegnerische Welt dringend zu bitten, den Irakern bei der Sicherung und dem Wiederaufbau ihres zerrütteten Landes zu helfen und sich auf die Wahlen in vier Monaten vorzubereiten. Stattdessen hielt Bush eine unerklärlich trotzige Kampfrede, in der er die schreckliche Situation im Irak vor Zuhörern vertuschte, die die wahre Lage ganz genau kennen, und beschimpfte sie dafür, dass sie die amerikanische Invasion von vorneherein nicht befürwortet hatten."

Die Moskauer Zeitung "Nesawissimaja Gaseta":

"Wie zu erwarten, sagte der Chef des Weißen Hauses, dass der Sturz Saddam Hussein gerechtfertigt gewesen sei, selbst wenn im Irak keine Massenvernichtungswaffen gefunden worden seien. (...) Außerdem erläuterte er die amerikanischen Anstrengungen im Kampf gegen Aids, Analphabetentum, Hunger und Armut genau. Für viele Beobachter sprach Bush nicht nur zu den versammelten Führern der Welt, sondern zu den amerikanischen Wählern. Nach jüngsten Umfragen ist der Abstand zwischen Bush und John Kerry gering, und der Herr des Weißen Hauses nutzte die internationale Bühne der UN, die seinem Herausforderer noch verwehrt ist."

Die römische Zeitung "La Repubblica":

"Aber es gibt keine verlässlichen Wegweiser, es gibt lediglich gegenseitige Verurteilungen sowie einen Dialog der Stimmen (...). Nur ein glaubwürdiger sowie ein bewunderter amerikanischer Präsident könnte die Eiszeit aufbrechen und wieder eine Linie der Kommunikation einrichten. Aber Bush ist nicht in der Lage, dies zu tun.

Man hatte gehofft, dass der Präsident die Gelegenheit seiner möglicherweise letzten Rede als Staatspräsident vor dem Hohen Rat der Nationen ergriffen hätte, um einige etwas konkretere und ernsthaftere Szenarien vorzustellen als seine gewohnte und bekannte Proklamation des 'Wir werden siegen' anzubieten."

Der britische "Independent"

"Bescheidenheit hat Präsident George Bush noch nie geziert. Deshalb war es vielleicht kaum überraschend, dass er in seiner Rede mit kaum einem Wort auf den katastrophalen Krieg einging, in den die USA nun im Irak verwickelt sind. Bush enttäuschte - wie schon so oft. Anstatt ein ausgewogenes Bild der irakischen Realität zu zeichnen, mutete er den versammelten Regierungschefs eine unheilvolle und selbstgerechte Rede zu, gespickt mit Klischees von 'Freiheit' und 'Demokratie', die den American Way Of Life glorifizierten.

Von seinem Grußwort angefangen, in dem er seine Zuhörerschaft in den Vereinigten Staaten begrüßte - dabei sind die UN diplomatisches Territorium -, sprach Bush aus einer Position der Überlegenheit, die in keiner Weise gerechtfertigt war. Fast alles, was Bush sagte, war anfechtbar wenn nicht gar schlichtweg falsch. Die UN-Vollversammlung ist keine Wahlkampfplattform. Sie ist, wie es der UN-Generalsekretär in seiner beispielhaften Rede über Rechtsstaatlichkeit zeigte, ein Forum für die Weltöffentlichkeit." (APA/dpa)