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Ein Ediacarafossil: Nach den 600 Millionen Jahre alten Lebewesen wurde nun eine Epoche der Erdgeschichte benannt.

Foto: Der Standard/epa
Hamburg/Toronto - Die Frühgeschichte der Erde wird umgeschrieben, zumindest aber umbenannt. Denn der letzte Abschnitt des Präkambriums, die Zeitspanne vor 600 bis 542 Millionen Jahren, heißt seit wenigen Tagen offiziell "Ediacarium": Eine Würdigung der Ediacara, jener frühen Lebewesen, die der Geologe Reginald Sprigg 1946 auf einer Expedition durch die australische Wüste in den Ediacara Hills in der Gebirgskette nördlich von Adelaide entdeckte - als er beim Essen einen Stein umdrehte.

Sprigg hatte plötzlich den Anfang der sichtbaren Lebensformen der Erde vor Augen. Die Oberfläche des Sandsteins, der älter war als alle bis dahin bekannten Fossilien, zeigte fein gezeichnete Abdrücke, die jenen glichen, die Blätter im Schlamm hinterlassen. Die Organismen ohne Panzer oder Skelett stellen die ältesten Überreste Kolonien bildender Vielzeller dar. Als mögliches evolutives Bindeglied zwischen Einzellern und etwas später plötzlich entstandenen großen Vielzellern nahmen sie in der Erdgeschichtsforschung lange einen rätselhaften Platz ein. Und es fanden sich Ediacarafossilien, wie die Sonderlinge seitdem heißen, inzwischen auch in England, China, Westafrika und Kalifornien.

Schleimiges Zeug

Die blattartigen, gerippten Ediacarafossilien wirken fremdartig. Viele sind flach wie Palatschinken, einige erinnern an Farne, andere an Fischfilets. Es handelt sich um Abdrücke von Weichteilen, von schleimigem Zeug. Einige dieser quallenähnlichen Wesen konnten einen Meter groß werden. Sie sonnten sich unbehelligt in den Flachmeeren des späten Präkambriums wie in einem Garten Ediacara ohne Sexualität und ohne jede Aggression - nie fand man Bissspuren an den Fossilien.

Begann mit den Wesen des Ediacariums die Entwicklung höheren Lebens tatsächlich schon im Präkambrium? Oder waren sie nur ein fehlgeschlagenes Experiment der Natur?

Ganzkörperabdrücke von Ediacara

Auf der Halbinsel Avalon in Neufundland entdeckten Forscher um Guy Narbonne von der Queen's University in Kanada Ganzkörperabdrücke von Ediacara, bei denen sogar der innere Aufbau zu erkennen ist. Wie die jüngste Analyse der Funde nun zeigte, besaßen die Ediacara weder komplizierte innere Organe noch erkennbare Körperöffnungen wie Mund und Darmausgang.

"Ein gallertartiges Skelett verlieh ihnen Festigkeit. So konnten sie sich aufrecht über dem Meeresboden halten", berichtet Narbonne. Die Fossilien aus Avalon zeigten, dass Ediacara "ein fehlgeschlagenes Experiment der Evolution" sind, attestiert Narbonne. Also kein evolutives Bindeglied. 60 Millionen Jahre lang bevölkerten Ediacara die Meere, bis sie zu Beginn des Kambriums vor 540 Millionen Jahren auf einmal verschwanden. Genau zu der Zeit, als sich schlagartig die heutigen Tierstämme ausbreiteten, damit auch erstmals Sexualität und Aggression zutage traten. Es war die erste große Umwälzung in der Geschichte des Lebens: Erstmals - Millionen Jahre vor den Dinos - war eine Lebensform für immer verloren gegangen. Warum, bleibt vorerst ein Rätsel. (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Printausgabe, 22.9.2004)