Wien - Das als vorbildlich geltende System mit Integrationsklassen und ambulanten Betreuungslehrern ist nach Ansicht von Experten in Gefahr. Damit könnten lernschwache, verhaltensauffällige oder behinderte Kinder wieder verstärkt in die Gettos der Sonderschulen abgeschoben werden, sagte der Wiener Landesschulinspektor Gerhard Tuschel beim Symposium "Zukunft in der Krise", das am Mittwoch vom Kuratorium für eine kinderfreundliches Österreich in Wien organisiert wurde.

Die Kürzungen im Bereich Schule bescheren höhere Klassenschülerzahlen und weniger speziell geschulte Lehrer für die psychosoziale Betreuung, bemängelte der Experte. So seien alleine durch die Penionsierungswelle im Vorjahr 20 Posten in diesem Bereich abhanden gekommen. Ein Lehrer betreue etwa 30 Kinder pro Jahr, was bedeute, dass heuer 600 Kinder weniger psychosozial begleitet werden können.

"Klar ist das integrative System personalintensiv und teuer, aber auch wesentlich besser als das System Sonderschule", so Tuschel. Diversen Neidern aus den Bundesländern müsse man entgegenhalten, dass Wien als die einzige Großstadt auch besondere Probleme habe. So gebe es in einigen Bezirken mehr als 50 Prozent Schulkinder mit nicht-deutscher Muttersprache. Ohne spezielle Förderlehrer, die etwa Sprachbarrieren beseitigen, würde ein Teil dieser Kinder unweigerlich in Sonderschulen landen.

Auch die Erhöhung der Klassenschülerzahlen im Regelschulwesen sieht Tuschel mit Besorgnis. Je größer die Klasse, desto mehr würden sich sich verhaltensauffällige Kinder negativ bemerkbar machen. Auch Zuwanderer-Kinder würden rascher den Stempel "behindert" aufgedrückt bekommen, warnte der Landesschulinspektor.

Immer wieder geäußerten Behauptungen, dass psychische Störungen bei Kindern zunehmen, erteilte Ernst Berger vom Neurologischen Zentrum Rosenhügel eine Absage. Dies sei statistisch nicht zu belegen. Sehr wohl ändere sich aber die Qualität der Störungen, ist der Wissenschafter überzeugt. So gebe es immer mehr jüngere Patienten mit schwereren Störungen in der Kinderpsychiatrie, auch im Justizbereich seien höhere Häftlingszahlen bei Jugendlichen zu beklagen.

Bei der Ursachensuche nur von "Erziehungsfehlern", "Werteverlust", "Verlust von Familienstrukturen" oder "biologischen Ursachen" zu reden, sei jedenfalls zu wenig. Bezüglich der Probleme von Jugendlichen im Schulbereich müsse auch das soziale Umfeld betrachtet werden, so Berger. So würden in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten durchgeführte Studien in Großbritannien belegen, dass sich vor allem die so genannte relative Armut einen belastenden Faktor darstellt. Je stärker die Einkommensschere zwischen Arm und Reich in einem Land auseinanderklafft, desto stärker die Belastung für die Ärmeren.

Ein derartiger sozialer Stress wirke sich erstaunlich rasch auf den Gesundheitszustand der betroffenen Bevölkerung aus und bewirke sogar höhere Sterblichkeitsraten. Wie die britischen Studien belegen, wirkt sich das soziale Gefälle aber auch auf die Phänomene "Hyperaktivität" oder "Angst" bei Kindern aus. Auch Schulleistungen von britischen Kindern sind während der "Ära Thatcher", in der soziale Ungleichheiten deutlich zugenommen haben, durchschnittlich mehrlich schlechter geworden. (APA)