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Beslan in der Stille danach: Ein Mann betrachtet die Worte, die er gerade mit einem Nagel in die Turnsaalwand geritzt hat: "Wer Kinder tötet, ist kein Tier, sondern ein Monster."

Foto: REUTERS/Gleb Garanich
Noch vor zwei Wochen, ich gebe es zu, hat mich der irre Ire amüsiert, der den im Marathon führenden Brasilianer einfach festgehalten und um die olympische Goldmedaille gebracht hat. Warum, habe ich mich damals gefragt, geschieht so etwas nicht viel öfter, warum werden nicht ständig Radrennfahrer vom Velo gerissen, Langläufer an Bäume gebunden, Tennisspieler mit Spiegeln, Fußballer mit Pfiffen irritiert? Da ist es im Süden Russlands, in einem mir völlig fremden Land namens Ossetien, zu einer ungeheuerlichen, über meine bescheidene Fantasie weit hinausgehenden Sport-Verstörung gekommen, wurde in Beslan gleich ein ganzer, mit Geiseln gefüllter Turnsaal gesprengt.

Im Eindruck dieser, einen selbst beschmutzenden, irgendwie verunreinigenden Nachrichten, all dieser Nachrichtentoten und Nachrichtenschmerzen, an denen man sich im Grunde nur begeilen kann, um dann doch nicht zu reagieren, nur zu sagen: Gott sei Dank hat es nicht uns, nicht mich erwischt, im Eindruck dieser Nachrichten-Ungeheuerlichkeiten also, als alles fast vorbei gewesen war, man aber wie bei einer Zugabe noch von marodierender, sich rächender, ja, lynchender Bevölkerung erfuhr, entfuhr es meiner Frau, sonst das friedlichste Wesen auf der Welt, dass sie als Mutter, deren (unser) Sohn dieser Tage ebenfalls zur Schule kommt, dass sie die Lynchjustiz hier durchaus begreifen kann.

"Verständnis" . . .

Nun ist in diesem Turnsaal in Beslan ein provisorischer Altar mit Kränzen, Kerzen und Fotos aufgebaut, nun wird in diesem Turnsaal nie wieder jemand eine Sprossenleiter raufklettern, wird niemand mehr auf rauen Plastikmatten, die sich anfühlen wie große Radiergummis, Überschläge machen, wird kein Zirkeltraining mehr stattfinden, kein Beugen mit dem Medizinball, und kein Völkerball gespielt. Niemand wird hier noch mit Turnschuhgummisohlen Bremsstreifen ins versiegelte Parkett zeichnen, niemand Turnbeutel aufhängen, übers Pferd springen und beim Seilkraxeln sich die Oberschenkelinnenseiten wund reiben. Und schon gar niemand wird hier noch Körbe werfen, wie man überhaupt bei Basketball in ganz Ossetien an Sprengfallen wird denken müssen, jahre-, nein, jahrzehntelang.

Nun kehren auch die Opfer wieder zurück, kehren zurück in die Ruine von Turnsaal, ihr Trauma zu überwinden, den Ort des Grauens zu begreifen, den Blutplatz, in den sich ausgerechnet zu Schulanfang, zum "Tag des Wissens", einem hohen Feiertag in Russland, ein bis dahin ganz normaler Turnsaal verwandelt hat.

So hat in Beslan auch der Sport - wieder einmal - seine Unschuld verloren, hat sich die Betroffenheit der Welt in einem ihr bis dato unbekannten Ort gebündelt und eingebrannt - sie, die Nachrichtenwelt, wird bald weiterziehen zu nächsten Katastrophen, Kriegen und Tragödien, neue Angst zu schüren.

Nun herrscht Stille in Beslan. Es ist eine andere Stille, wenn jemand stirbt und alle Töne mit sich fort trägt, als wenn ein Orchester Stille spielt, man Musiker und Publikum atmen hört, eine andere Stille, als wenn man unter Wasser ist, es die Ohren verschlägt, eine andere Stille, wie wenn das aus hunderten Schulanfängerkehlen gepresste Lied "Kindheit, Kindheit, wohin bist du entschwunden?" von maskierten, mit Sprengstoff umgürteten Terroristen abgewürgt worden ist.

Und es ist noch einmal eine andere Stille, wenn so viele sterben, es so viele Totenseelen gibt, die die Töne mit sich fort tragen. Aber vielleicht ist der Tod auch keine Kante, über die man plötzlich fällt, kein jähes Ausschalten von etwas, das eben noch an gewesen ist. Vielleicht sind alle Kanten rund? Alle Übergänge fließend?

Als Vater verstehe ich die überschäumende Wut der Eltern und Angehörigen, die so aufgebracht, so ohne Sinn und Logik sind, dass sie einem auf Charles Lynch, Oberst und Richter im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, zurückgehenden Sich-gehen-lassen nachgeben wollen, ja, vielleicht nur Friede finden, wenn sie sich gerächt, sie die Schuld an der über sie hereingebrochenen Katastrophe ein Stück weit aufgenommen und weitergespielt haben.

Mag sein, dass diese Instant-Rache den Opfern eine jahrzehntelange Psychotherapie erspart, aber trotzdem bleibt Lynchjustiz, dieser kollektive Amok, dieses über jede Kante springen, auch wenn ein einzelner Anstifter nicht mehr auszumachen ist, mehrere gemeinsam morden, eine ungeheuerliche Barbarei, die die Beteiligten zu Abschaum macht, wehtut und die es zu verurteilen gilt und zwar absolut, auch, oder gerade, wenn man selbst nicht weiß, wie man reagieren würde, doch wer weiß das schon.

. . . für Lynchjustiz?

Scharfe Distanznahme, die auch von auf Mitleid und Angstmache zielenden Medien verlangt werden muss, weil man sonst irgendwann auch irre Iren, die Marathonläufer aufhalten oder Autorennen stören, lyncht, weil sonst irgendwann die Welt komplett im Arsch und voller Kanten unrund ist, eben gelyncht. Daher hat mich diese mediale Nichtdistanz zur Lynchjustiz betroffener gemacht als alles andere, war dies das Noch-Schrecklichere an Beslan.

Und aus dem Turnsaal wird man ein Denkmal machen, der dann Anstoß zum Heimzahlen und Heimzahlen und Heimzahlen ist, zur Rache immerfort. Was sonst? (DER STANDARD, Printausgabe, 13.9.2004)