Istanbul - Ist der Türkei die islamische Moral wichtiger als die EU-Mitgliedschaft? Vier Wochen vor dem entscheidenden Türkei-Bericht der EU-Kommission ist bei der Rundreise von Erweiterungskommissar Günter Verheugen durch den Bewerberstaat deutlich geworden, dass die erforderlichen Veränderungen in den Köpfen nur langsam voran kommen.

Vollgas beim Thema Ehebruch

Das gilt nicht nur für Polizisten, die nach wie vor foltern - das gilt auch für die Regierung, die ausgerechnet jetzt den Ehebruch zur Straftat erklären will. Verheugen nannte die Gesetzespläne zum Ehebruch am Donnerstag einen "Witz" und warnte Ankara vor den Konsequenzen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der sonst so sensibel auf Bedenken der EuropäerInnen reagiert, will beim Thema Ehebruch trotzdem Vollgas geben, um seinen konservativen Parteiflügel und die religiösen WählerInnen zu bedienen.

Zum "Schutz" der Frauen

Das geplante Gesetz diene dem Schutz der Frauen, sagt Erdogan, obwohl die Frauenverbände in der Türkei seit Wochen gegen das Vorhaben Sturm laufen. Nach dem Gesetzesentwurf von Erdogans Regierungspartei AKP soll die Staatsanwaltschaft aktiv werden, wenn sich ein Mann oder eine Frau über die mutmaßliche Untreue des Partners/der Partnerin beschwert. Mit bis zu zwei Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe von umgerechnet bis zu 10.000 Euro sollen MissetäterInnen bestraft werden. Am Mittwochabend bekräftigte die AKP-Führung ihre Entschlossenheit, den Gesetzesentwurf schon nächste Woche vom Parlament beraten zu lassen.

"Historischer Witz"

Die Folgen für das Image der Türkei in der EU wären katastrophal, warnte Verheugen seine Gastgeber zum Abschluss seines viertägigen Besuches am Donnerstag. In Interviews mit türkischen Medien klagte Verheugen, er verstehe nicht, warum Erdogans Regierung ausgerechnet in einer solch entscheidenden Phase kurz vor dem neuen EU-Fortschrittsbericht über die Türkei mit dem Ehebruchs-Plan daherkomme. Es wäre ein "historischer Witz", wenn sich die Türkei nach all ihren Reformanstrengungen zwischen dem Ehebruchs-Verbot und der EU-Mitgliedschaft entscheiden müsse. Verheugen riet Erdogan dringend dazu, die Angelegenheit noch einmal zu überdenken.

Fehlkalkulation

Möglicherweise wird dies noch geschehen, auch wenn die Regierung derzeit zumindest nach außen hin Entschlossenheit demonstriert. Der AKP-Kenner und Journalist Rusen Cakir meint, die Regierungspartei habe bei der geplanten Strafe für den Ehebruch nicht mit der heftigen Reaktion der EU gerechnet - "sonst hätte sie es nicht getan".

Munition für KritikerInnen geliefert

Selbst wenn Erdogan unter dem Druck der EU den Gesetzesentwurf in letzter Minute noch fallen lässt, dürfte ein schlechter Nachgeschmack in vielen Hauptstädten der EU zurückbleiben. Die Türkei ist wegen ihrer moslemischen Bevölkerungsmehrheit ohnehin vielen EuropäerInnen suspekt - dass eine islamisch angehauchte Regierungspartei in Ankara jetzt den Eindruck erweckt, "islamisches Recht" einführen zu wollen, wie Verheugen es ausdrückte, wird der Türkei in der EU nicht gerade helfen. Statt das Misstrauen der Türkei-SkeptikerInnen in Europa durch weitere demokratische Reformen zu zerstreuen, hat Erdogan aus innerparteilichen Gründen in Europa bestehende Vorurteile zementiert und den KritikerInnen seines Landes neue Munition geliefert.

Andere Probleme

Dabei gibt es für die Türkei ohnehin noch sehr viel zu tun. So müsse die Regierung den Kampf gegen die Folter verstärken, forderte Verheugen. Die türkische Menschenrechtsstiftung TIHV hatte ihm einen Bericht überreicht, in dem von systematischen Misshandlungen die Rede war. Andere Menschenrechtsgruppen in der Türkei sind zwar nicht der Ansicht, dass sich die Lage verschlechtert hat, doch alle BeobachterInnen sind sich einig, dass die Polizei nach wie vor häufig Gewalt anwendet und dass nur die wenigsten Beamten dafür bestraft werden. Verheugen forderte zudem mehr staatliche Anstrengungen, um die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage der KurdInnen zu verbessern. Bei diesen unerledigten Hausaufgaben ist es kein Wunder, dass der EU-Kommissar angesichts der plötzlichen Ehebruchs-Debatte nur mit dem Kopf schütteln konnte. (APA/Susanne Güsten)