Wien - "Lossa ist ein mittelkräftiger, schlecht aussehender Junge. Er hat eine unsportliche Körperhaltung, die seinem hinterhältigen Wesen entspricht. Seine Stehlsucht scheint krankhaft", heißt es in einem Schreiben der Erziehungsanstalt Indersdorf: Daraufhin wird der 13-jährige Ernst Lossa am 20. April 1942 in die psychiatrische Anstalt Kaufbeuren eingewiesen.

"Verschlagener Bursche", schreiben die dortigen Ärzte, "nimmt weg, was er sieht." Dass er gestohlene Äpfel "an Mitkranke verteilte", sei eine "offenkundig asoziale Neigung". Für so beurteilte Kinder war im Nationalsozialismus kein Platz. Eintragung in Lossas Krankenblatt am 9. August 1944: "Euthanasiert!"

Was Ärzte zu Mördern macht war die Kernfrage der STANDARD-Diskussion zur Psychiatrie im Nationalsozialismus, die Dienstag den Auftakt zur Ausstellung "In Memoriam" im Wiener Museumsquartier bildete. Am 1. September 1939 wurde den Direktoren psychiatrischer Anstalten im Reichsgebiet der "Euthanasieerlass" eröffnet. Sie mussten Meldebögen nach Berlin schicken, aus denen hervorgehen sollte, welche Patienten Kriterien für die Tötung erfüllten. 70.273 Menschen wurden bei den so genannten T 4-Aktionen in die Gaskammern gebracht. 10.000 Kinder kamen durch die Hand ihrer Psychiater zu Tode.

Zweifel ersticken

"Die Ursachen waren auch in einer Gesellschaft zu finden, die sich dem Staat untergeordnet hatte. Das Beiwerk der Nationenbildung Bismarcks war Autoritätshörigkeit", erklärte Psychiater Alexander Friedmann vom AKH. Dazu kam die Wissenschaft: "Mendels Gesetze und der Darwinismus gaben Anlass zu der Idee, dass man alles machen könnte, und zu Rassentheorien". Im Streben, allen Zweifel in sich selbst zu ersticken, wollte die Gesellschaft sich funktionaler organisieren, indem weniger kranke Kinder auf die Welt kommen. Hier hakte Wolfgang Schütz, Rektor der Medizinuni Wien, ein. Er berichtete von Eltern, die sich beim Arzt, der ihren Sohn euthanasiert hatte, sogar bedankten, und die Bitte, dass sie seine Kleidung zurück haben dürften, mit der Frage verbanden, ob sie "die Verpackung" retournieren sollten.

Michael von Cranach, Direktor des Krankenhauses Kaufbeuren, fragte, ob Menschen fähig seien, Menschen zu töten, die sie mögen. Denn die Sprache in den Krankenblättern sei immer "hasserfüllter" geworden, je näher der Tod rückte: "Der Patient war dann "aufmüpfig", oder "faul". Diese Strategie sei mit einer "Kumpanei, zur Elite zu gehören" verbunden gewesen.

Der Wiener Medizinhistoriker Michael Hubenstorf warf "einen Blick auf die Psychiatrie an sich". Waren die Krankenberichte in den Euthanasieanstalten penibel geführt, erwecken heutige Berichte den Eindruck, Psychiater seien "sagenhafte Techniker", die an der Utopie, "durch aktives Tun Patienten zu heilen, unverändert festhalten."

Einige Ärzte hätten sich gegen die Euthanasieerlässe gewehrt, berichtete Cranach. "Sie haben gewusst, was sie taten - selbst die Zwölfjährigen", sagte Friedrich Zawrel, Überlebender der NS-Euthanasieanstalt "Am Spiegelgrund". Und Waltraud Häupl, Schwester eines Wiener Euthanasieopfers, unterstrich: "In Österreich wurden hunderte Kinder getötet, aber die Regierung hat noch kein Wort des Bedauerns gefunden." (Eva Stanzl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9. 9. 2004)