Der Schock des 11. September 2001 hat die führende Demokratie der Welt in einen tiefen Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit gestürzt. Wie weit dürfen zum Schutz vor Terrorangriffen die Menschenrechte der Bürger im eigenen und in anderen Ländern eingeschränkt oder sogar verletzt werden? Die amerikanische Gesellschaft führt diese Debatte mit Leidenschaft, und die Medien spielen eine Schlüsselrolle dabei. Der Folterskandal im Irak wurde von den Medien aufgedeckt. Nicht von ungefähr versuchte die Regierung Bush die führenden Medien auf Linie zu bringen - weit gehend erfolglos.

Das quasi heilige Prinzip der Freiheit des Einzelnen, eingebettet in das demokratische System des Machtausgleichs, der "checks and balances", hat die USA zur Supermacht werden lassen - auch mit problematischen Begleiterscheinungen und global bedenklichen Konsequenzen. Aber wenn Amerika die Herausforderung des Terrorismus besteht, dann als freie, offene Gesellschaft - das ist demokratischer Grundkonsens.

Wie weit Russland von einer solchen offenen Gesellschaft auch 13 Jahre nach dem Ende des Kommunismus noch entfernt ist, zeigte sich jetzt beim Geiseldrama von Beslan auf erschütternde, wenn auch kaum überraschende Weise. Die offizielle Informationspolitik folgte dem Muster, wie man es von früheren Katastrophen kennt: restriktiv, hinhaltend, verwirrend.

Was dabei schlichte Inkompetenz und was sorgfältige Regie war, lässt sich bei der Monstrosität des Ereignisses schwer auseinander halten. Dass die beiden großen staatlichen TV-Kanäle noch während der Erstürmung der Schule Unterhaltungssendungen brachten und der praktisch staatlich kontrollierte Sender NTW klare Anweisungen für seine Berichterstattung erhielt, spricht allerdings für sich.

Ob Inkompetenz oder gezielte Desinformation vorherrschten, ist aber gar nicht entscheidend. Denn beides kennzeichnet das Grunddefizit der russischen Gesellschaft: mangelnde öffentliche Kontrolle der Macht. Und Hauptursache dieses Defizits ist, dass Russland über keine starken freien Medien verfügt.

Wladimir Putin hat schon nach seiner ersten Wahl zum Präsidenten den Aufbau einer Zivilgesellschaft, also einer Gesellschaft eigenverantwortlicher, mündiger Bürger, zu den wichtigsten Aufgaben für Russland erklärt. In der Praxis hat er zugleich alles getan, um eine solche Zivilgesellschaft zu verhindern: vor allem durch die Gleichschaltung der Medien. Alle landesweit ausstrahlenden Fernsehsender stehen inzwischen unter direkter oder indirekter Kontrolle des Kreml. Im Printbereich gibt es zwar eine Reihe unabhängiger und auch mutiger Publikationen, ihre politische Bedeutung ist aber sehr beschränkt.

Ohnedies sind die Medien bei einem Großteil der russischen Bevölkerung generell schwer diskreditiert. Zunächst aufgrund der Erfahrungen in der alten Sowjetunion, wo sie reine Propagandainstrumente waren. Und dann durch die Folgen der Raubprivatisierung in der Jelzin-Ära, wo sich Oligarchen wie Boris Beresowski und Wladimir Gusinski Medienimperien schufen, vornehmlich zur Durchsetzung eigener Interessen.

Putin wies die Unbotmäßigen unter den Oligarchen in die Schranken. In seinem Konzept von einem starken Russland muss die Demokratie gelenkt werden, mit entsprechender medialer Absicherung. Und er scheint tatsächlich zu glauben, dass das funktionieren kann. Dass die angestrebte "Herrschaft des Rechts", der Kampf gegen Korruption und Bürokratie größtmögliche Transparenz und also starke unabhängige Medien zur Voraussetzung haben, scheint der ehemalige Geheimdienstler nicht wirklich erkannt zu haben.

"Wir haben die Komplexität und die Gefahren der Entwicklungen in unserem Land und in der ganzen Welt nicht verstanden", sagte Putin in seiner Fernsehansprache nach dem Geiseldrama. Die Diagnose stimmt. Aber sie ist Folge der Therapie, die Putin selbst seinem Land verordnet hat. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.9.2004)