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Eines der vielen geschockten Kinder; nach zwei zermürbenden Tagen erlebten sie ein traumatisches Ende der Geiselhaft.

Foto: Reuters/Korotayev
Wien - Nach Extremsituationen wie der Geiselnahme in der Schule in Nordossetien ist rasche psychologische Betreuung für die Kinder das Gebot der Stunde, betont Ernst Berger, Leiter der Neurologischen Abteilung für Kinder und Jugendliche am Wiener Rosenhügel, im STANDARD-Gespräch. Wenn, dann seien unmittelbare posttraumatische Störungen zu erwarten - Störungen, die erst nach Jahren auftreten, seien "in solchen Fällen eher unwahrscheinlich". Aus diesem Grund sei etwa in Wien auch die "Boje" eingerichtet worden - ein Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen - "weil für derartige Akutbehandlungen ein Defizit bestand".

Die erlebte Stresssituation könne sich danach beispielsweise in Schlaf-, Lern- oder Essstörungen äußern, wobei dann die Behandlung in kinderspezifischer Methodik erfolgen muss. "Bei Kindern kann es sein, dass es mit dem darüber Reden nicht machbar ist, daher sucht man eher einen nonverbalen Zugang über Spielen oder Zeichnen". Eine medikamentöse Behandlung ist für Berger "sicher nicht das Mittel der ersten Wahl. Nur bei besonders heftigen Reaktionen könnten sie durchaus auch zum Einsatz kommen."

Aber auch in der Extremsituation selbst könne den Kindern schon geholfen werden. "Bei einer Geiselnahme in einem Kindergarten vor etwa einem Jahr hat die Kindergärtnerin überaus kompetent reagiert", erinnert Berger. "Die hat die Kinder in aller Ruhe zu Bett gebracht, am nächsten Morgen sind sie wieder aufgestanden - und so haben sie diesen Vorfall nahezu unbeschadet überstanden. Wenn die Kinder möglichst wenig mit der Angst direkt konfrontiert werden, hat man auch die Chance, dass die Schäden auf ein Minimum reduziert werden."

Bei einer Gruppengeiselnahme wie jetzt in der Schule sei auch ein Stockholm-Syndrom "eher nicht zu erwarten". Diese Identifizierung mit den Tätern finde bei längeren Einzelgeiselnahmen statt, wenn auch eine Bindung aufgebaut wird, "wenn sich also der Täter langsam zum lieben Onkel wandelt".

Am Samstag wird Berger bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Psychotraumatologie in Wien über Traumaverarbeitung in der Neurorehabilitation referieren. Es wird geschätzt, dass allein in den deutschsprachigen Ländern Europas rund zwölf Millionen Menschen an posttraumatischen Störungen leiden. (Roman David-Freihsl/DER STANDARD, Printausgabe, 4./5.9.2004)